Fänger, gefangen: Roman
gut.« Dad ist jetzt todernst. »Nick sieht, wie Daniel vor seinen Augen dahinsiecht. Er sieht, wie er mitten in der Nacht zur Toilette rennt. Das ewige Wäschewaschen. Gestern hat Daniel es nicht mal geschafft, um das Boot zu schwimmen, ohne sich an der Festmacherleine auszuruhen. Er konnte mal quer durch den ganzen Fluss schwimmen, verdammt!« Dads Ärger war laut und deutlich zu verstehen.
Mom unterbrach ihn. »Meinst du, Nick sollte mit einem Therapeuten sprechen?«
»Vermutlich.«
»Aber wir können uns nicht den und Mexiko leisten«, sagte Mom. »Wir waren uns einig, dass Daniel an erster Stelle steht. Deshalb hat mich das mit Judy auch so genervt.«
»Sie versucht nur zu helfen. Sie meint es gut.«
»Wenn ich für jedes gut gemeinte Wort dieser Leute einen Dollar kriegen würde ...!«, erboste sich Mom
»Dieser Leute?«, sagte Dad. »Vor fünf Wochen waren diese Leute noch unsere Freunde.«
»Tja, die wissen aber nicht, wie es ist«, erwiderte Mom. »Mit ihren Plattitüden und Aufläufen und Früchtekuchen! Was lesen die denn für Ratgeber?«
»Du würdest es ihren Kindern nicht wünschen.«
Es wurde still, und ich setzte mich automatisch auf, um besser mithören zu können. Als würde gleich die Weltfriedensformel verkündet werden.
Die Stimme meiner Mutter war langsamer und unsicherer, als würde sie an Fahrt verlieren, als wäre die Diskussion eine Art verbaler Einlauf, der sie bereits leer gespült hatte. »Doch, das tue ich. O Gott, Red, ich wünschte, es wäre das Kind einer anderen. Sofort. Und ich wäre die Erste, die Schokoladenkuchen backt.«
»Das hier ist aber nicht Teil eines großen Masterplans zur Bestrafung der Landons«, entgegnete Dad. »Es ist, wie bei Mau-Mau eine Sieben vorgesetzt zu bekommen. Diesmal sind wir dran. Ein anderer Junge in einer anderen Stadt ist der nächste. Krankheiten wie Leukämie passieren einfach.«
»Das glaube ich nicht«, sagte Mom. »Es kann nicht einfach Zufall sein. Es gibt biologische Gründe, gesundheitliche Dinge, die gewissen Menschen zustoßen und anderen nicht.«
Mehr Gemurmel, tonlosere Stimmen, erschöpft, drauf und dran, sich geschlagen zu geben. Die Tür der Kabine wurde aufgemacht, undDads Gummisohlen quietschten übers Deck. »Sylvie, du musst das loslassen. Du hilfst den Jungen nicht, wenn du die ganze Zeit über wütend bist. Es ist nicht deine Schuld, dass Daniel krank ist.«
»Er ist nicht einfach krank. Ich wünschte, er wäre einfach krank. Er stirbt.« Sie verschluckte sich an ihren eigenen Worten, und ich bekam seine Antwort nicht mit. Dann sagte sie: »Wenn es Zufall ist, wenn es keine medizinische Erklärung gibt, wie soll es dann ein Heilung geben?«
»So habe ich das nicht gemeint«, sagte Dad. »Du reißt meine Worte jetzt aus dem Zusammenhang. Ich meine, du musst aufhören, dir die Schuld für etwas zu geben, das du nicht beeinflussen kannst.«
Sie flüsterte nur noch. Ich konnte sie nicht verstehen, und Dad anscheinend auch nicht, denn er hörte auf zu reden und ging übers Deck zu der Stelle zurück, wo sie wohl stand, immer noch in der Kajüte. Und dann sagte sie die Worte, die mich seit genau diesem Tag verfolgen – gleich als Erstes am Morgen, an verregneten Nachmittagen und mitten in der Nacht. Mit tonloser Stimme – ohne Ärger, ohne Verzweiflung, ohne Enttäuschung – hängte Mom die Worte eins nach dem anderen in die Luft wie unendlich schwere Christbaumkugeln, die alle Zweige nach unten ziehen.
»Aber ich hab ihm diese Gene gegeben.«
5
Freitagnacht soll Vollmond sein. Reines Glück. Am Telefon versichert mir Mack, dass er Zeit und Ort mit Juliann und Meredith ordnungsgemäß noch mal bestätigt hat. In meinem Rucksack stecken Tortilla-Chips und eine Tüte rote Lakritze, und das Glas mit Salsa-Dip zieht ihn schwer nach unten. Dad ist von seiner Chicago-Reise zurück und erklärt sich bereit, mich auf dem Weg zu seinem Meeting der Anonymen Alkoholiker (AA) in Warsaw bei Mack abzusetzen.
Das hätte ich vielleicht früher schon mal erwähnen sollen. Im Fall meines Vaters ist Anonyme Alkoholiker allerdings eine Fehlbezeichnung. Seine Droge der Wahl ist – war – Marihuana; zumindest hat er uns das erzählt. Anscheinend gibt es in Essex County aber nicht genug abstinente Drogensüchtige, um für sie eine eigene Gruppe der Narcotics Anonymous (NA) zu gründen. Dad geht noch immer ein bis zwei Mal im Monat zu den AA-Meetings, obwohl er seit fast sechzehn Jahren abstinent ist, also mein ganzes Leben lang. Eines
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