Fänger, gefangen: Roman
auf die Unterhose. Ziehe meinen Trainingsanzug an. Zur besseren Balance halte ich mich an der Leiter fest und schiebe das Bio-Buch auf mein Bett, dazu Schreibblock und Stift für die Wissensabfrage an jedem Kapitelende. Ich häng sogar meine Jeans an den Haken an der Wand. Dann greife ich nach der Sprossenleiter rechts und links und warte, bis der Fluss ruhig ist. Vom Südwind wird das Boot immer wieder in Schräglage geschoben. Dann fange ich bei der untersten Sprosse an und klettere ganz langsam und konzentriert nach oben, eine Sprosse nach der anderen. So, wie ein Kleinkind eine Treppe hochsteigt.
9
Als ich mit dem fünften Kapitel im Bio-Buch fertig bin, darüber, welche Nerven beim Schmerz beteiligt sind, schnarcht Nick. Dieses Zeug ist wirklich interessant. Im Ernst. Wenn du es schaffst, Kotzen und Zittern und spontane Kopfschmerzen in nüchterne wissenschaftliche Begriffe zu packen, verstehst du besser, wie alles zusammenhängt. Falls meine Eltern mich je nach meiner Meinung fragen, werde ich zur Abwechslung mal halbwegs intelligent klingen.
Draußen klagen die letzten Zikaden in langen Morsecode-Phrasen, ein wahres Irrenhaus an weißem Rauschen. Hinter dem Schilf quakt ein einsamer Ochsenfrosch den Autos auf der Route 17 mit tiefer Stimme eine Warnung zu.
Achtung, Achtung, Polizeikontrolle lauert.
Jeder im Ort weiß, dass die Polizei mit gezücktem Strafzettelblock auf dem leeren Parkplatz beim Fastfood-Imbiss
Dairy Queen
steht, ausgekocht und fies. Fast wie durch Zauberei höre ich jetzt tatsächlich die Sirene und sehe rotes Licht über die Kabinendecke blinken. Was ist nur mit den Polizisten los? Können den Leuten nicht mal ein bisschen frische Luft gönnen, ohne sie gleich der Raserei zu überführen. Sie präsentieren ihre Marken und genießen ihre Macht, Strafen zu verhängen. Sie hüten die Regeln allein um der Regeln willen – das hat auch Holden ganz richtig erkannt.
Vom Oberdeck und aus der hinteren Kabine kommt kein Laut. Meine Eltern haben sich zurückgezogen, liegen statt zur üblichen Mitternacht schon um neun im Bett. In letzter Zeit kommt es mir so vor, als würden sie meine eigene Flucht ins Bett imitieren – ihre Erschöpfung verbergen, bis ich meine eingestehe. Ich schließe die Augen. Ich bin zu müde,um runterzuklettern und das Licht auszuschalten, das an Nicks Kopfende festgeklemmt ist.
Er ist nicht viel älter als Holdens Schwester Phoebe. Aber Jungs sind anders, die checken das nicht so mit den Gefühlen anderer. Wo kam dieses Ich-beschütze-meinen-kranken-Bruder-Ding überhaupt her? Wer hätte ihn für so clever gehalten mitzukriegen, dass Mom und Dad in Schwierigkeiten stecken? Hausunterricht wäre für Nick die reinste Qual. Seine Freunde sind sein Leben. Er ist der Fußballstar, der Held des Teams. Dass er freiwillig auf diese Freunde verzichten würde, nur um die Landons vor einer Vorladung zu bewahren, sagt viel darüber aus, was für ein Mensch er ist. Es bedeutet aber auch, dass die KRANKHEIT ihn ebenfalls in ihren Krallen hat. Würde er noch auf eine Heilung hoffen, hätte er was ganz anderes vorgeschlagen als eine Rundfahrt auf der
Nirvana
durch die Chesapeake Bay.
Jetzt verstehe ich, warum Holden sich Sorgen um Phoebe macht. So cool sie auch ist, sie ist trotzdem noch ein kleines Kind, und jeder halbwegs anständige Bruder würde sich um sie kümmern. Ich hätte Lust, die Szene mit Phoebes Koffer noch mal zu lesen, aber das Buch steckt in meinem Rucksack, die blöde Sprossenleiter dazwischen. Also stelle ich mir die Szene nur vor. Phoebe erkennt Holdens inneren Kampf und denkt, wenn sie bei ihm ist, kann sie ihm helfen. So wie Nick, der quasi mit zu mir ins Boot kommt, um es mir leichter zu machen. Er springt einfach rein, ohne drüber nachzudenken, was er damit aufgeben würde. So wie Phoebe. Sie ist überzeugt, sie kann Holden helfen. Und dann muss Holden die Verantwortung übernehmen und sie davor bewahren, dass sie unter die Räder kommt. Also trickst er sie aus, damit sie wieder nach Hause geht.
Ich versuche rauszukriegen, welche Hintergedanken Nick haben könnte, ob es da noch einen unterschwelligen Aspekt gibt, aber sein Angebot scheint aufrichtig gewesen zu sein. Er hat einfach so vorgeschlagen, dass wir die Kojen tauschen sollten. Es steckt nichts weiter dahinter, denn hier oben ist viel weniger Platz. Niemand würde da freiwillig raufgehen, wenn er die Wahl hätte.
Aber Phoebe gibt ihren Plan auf, mit Holden wegzugehen. Sie lässt zu, dass er ihren
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