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Fänger, gefangen: Roman

Fänger, gefangen: Roman

Titel: Fänger, gefangen: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Sarah Collins Honenberger
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ich nachvollziehen. Manchmal stehe ich nur neben einem Mädchen in der Schlange oder sehe einen Film mit einem Mädchenim Badeanzug, und ich muss mich schon entschuldigen. Es ist peinlich.
    Davon mal abgesehen – wie schrecklich wäre es, nicht zu wissen, mit wem sie vorher so zusammen war? Oder wen sie geküsst hat? Ich meine, du kannst nie ganz sicher sein, aber bei einem Mädchen, das du vorher kennst, etwa aus der Schule oder woher auch immer, weißt du zumindest ungefähr, mit wem sie so abhängt. Und du kennst so einigermaßen den letzten Typen, mit dem sie zusammen war.
    Schlimmer ist noch, dass die gute Sunny in Holdens Hotelzimmer sich überhaupt nicht für seine Gefühle interessiert. Sie will nur das Geld. Lausige fünf Dollar, mehr nicht. So schlimm meine Eltern auch dran sind mit den Arzneimittelrechnungen und Anwaltskosten, kann ich mir nicht vorstellen, wie jemandem fünf Dollar so wichtig sein können, nicht mal im letzten Jahrhundert, als Salinger den
Fänger
geschrieben hat. Sunny und der Fahrstuhltyp zocken Holden ab, nur weil sie’s können. Weil er allein und jung ist. Das ist echt bescheuert.
    Die Frage, die mir nicht aus dem Kopf geht, ist, ob Holden diese ganze Episode hätte vermeiden können. Ist das der Grund, warum er uns jedes noch so peinliche Detail erzählt? Wie der schmierige, behaarte Typ ihn in die Ecke drängt, und wie er weint, als sie das Geld aus seinem Portemonnaie ziehen. Das hätte er nicht erzählen müssen. Wenn er nicht so deprimiert über die Schule gewesen wäre und nicht diese Probleme mit seinen alten Freunden gehabt hätte, wäre er auf den Vorschlag des Fahrstuhlluden mit dem Mädchen wohl gar nicht erst eingegangen. Und dann hätte er ihr beim zweiten Mal auch bestimmt nicht die Tür geöffnet.
    Nach dem ganzen Mist mit den beiden in seinem Zimmer nimmt er ein Bad. Welcher Typ nimmt schon ein Bad? Und dann denkt er sich diese ganze Filmszene aus, die total albern ist und überhaupt nicht zu jemandem passt, der so straight und echt ist, wie er vorher war. Ich verstehe das als Kontrast. Ich kann direkt hören, wie Stepford-Hanes das zum Besten gibt. Etwas so Verrücktes, dass er es auf keinen Falldurchziehen kann – um den wahren Charakter Holdens ans Tageslicht zu bringen, nicht den aufgesetzt coolen König der Großstadt. Als ich es jetzt lese, zum fünften oder sechsten Mal, treffen mich die letzten drei Zeilen richtig hart. Du kriegst wirklich Angst, dass er es ernst meint – dass er so tief deprimiert ist oder sich so sehr vor seinen Eltern fürchtet, dass er tatsächlich aus dem Fenster springt. Allerdings verfehlt er, während er übers Springen nachdenkt, den entscheidenden Punkt. Wenn du erst mal springst, ist es egal, wer dich verdammt noch mal sieht.
    Von meinem Platz in der Hängematte aus kann ich das Gespräch zwischen Nick und Dad auf dem Oberdeck mithören. Nick erzählt Dad von seinem Freund Thomas Lynch, der die fünfte Klasse nicht schaffen wird. Als ob tatsächlich jemand die fünfte nicht schaffen könnte! Da geht es hauptsächlich um Buchbesprechungen und Kunstprojekte und Buchstabiertests, wie schwer kann das schon sein? Aber Nick hat mir auch schon von diesem Thomas erzählt. Ein paar Mal. Sein Vater trinkt sehr viel, und wenn er trinkt, dann schlägt er. Nick versucht, Dad dazu zu bringen, mit Thomas’ Vater über AA zu sprechen. Dad sagt Nein.
    Nein nicht deshalb, weil er nicht mit Mr Lynch reden will, sondern weil es nichts ändern würde. Dads großes Thema bei AA und der Entscheidung, sein Leben zu ändern, dreht sich um Schritt eins der AA-Philosophie: Du musst einsehen, dass du ein Problem hast, das du allein nicht lösen kannst. Wir Landons haben das schon hundert Mal gehört.
    Dad ist ganz ruhig, als er über die Lynchs redet. »Nickie, diese Entscheidung kann niemand Mr Lynch abnehmen.«
    Nick redet dagegen, aber seine Stimme ist leise und stockend, als würde er gleich anfangen zu weinen. »Und was ist mit Thomas? Der hat auch ein Problem, das er allein nicht lösen kann. Wer kümmert sich um ihn?«
    »Vielleicht sollte Thomas mit jemandem reden, der ihm helfen kann. Einem Erwachsenen.«
    »Dann nehmen sie ihn seinem Vater weg und bringen ihn zu Pflegeeltern.«
    Das dumpfe, regelmäßige Klopfen auf dem Dach sagt mir, dass dort oben jemand rumläuft. Auch ohne ihn zu sehen, kann ich mir vorstellen, wie Dad seine Stirn in tiefe Falten legt vor lauter Sorge, ob Mom noch sauer ist, ob die Chemo mir den Rest geben wird, ob Nicks

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