Fänger, gefangen: Roman
aufspart.«
»Er wird sich nur Sorgen machen und dann vielleicht nicht gut schlafen«, sagt Dad. »Lass uns warten.«
»Es wird sowieso ein Schock.«
Mir schwirrt der Kopf, meine mir bereits notorisch vertraute Fantasie arbeitet auf Hochtouren. Wovon zum Teufel sprechen sie da? Wie lautet das große Geheimnis? Welche Neuigkeiten können noch schlimmer sein?
Mom spricht wieder ganz leise. »Da kann ich es ihm bis dahin wenigstens etwas leichter machen. Und ihm Dinge abnehmen.«
»Du kannst nicht alles machen.«
»Ich mache ja auch nicht alles«, sagt Mom. »Wenn es so wäre, würde
ich
die verdammte Chemo nehmen, anstatt sie ihm gegen seinen Willen aufzwingen zu lassen.«
Also das ist das große Geheimnis. Chemo am Montag, der Achtundvierzig-Stunden-Countdown läuft. Ich sollte geschockt sein, verängstigt, aber tatsächlich bin ich erleichtert. Endlich passiert etwas. Die Debatte ist vorbei. Alle Ärzte halten es für den richtigen Weg, der Richter stimmt zu, selbst der Große Zauberer von Oz Walker ist dafür.
In dem bisschen, was ich bisher über Leukämie lesen konnte, wird Chemotherapie immer als erste Lösung genannt. Ich meine, ich mag Miss T. Undertaker und ich liebe meine Eltern, aber was können die inihrer kleinen Ecke von Essex County, Virginia, schon wissen? Sie haben nie eine Chemotherapie erlebt. Wie schlimm kann das schon sein? Ich muss ja jetzt schon dauernd kotzen und kann nicht mehr zur Schule und sitze auf dieser fahrbaren Insel fest. Außerdem hält auch Meredith die Chemo für eine gute Idee, und sie hat an noch anderen Orten gelebt außer in diesem Loch Tappahannock.
Als Mom die Treppe wieder runtergeht, beeile ich mich, zurück in die Kabine zu schleichen und mich auf einen Stuhl zu setzen. Zum Glück kommt sie nicht rein, sondern sieht nur durchs Fenster und kehrt dann um. Ich beobachte sie, wie sie sich an der Reling festhält, obwohl das Wasser glatt wie ein Spiegel ist. Ohne die Reling loszulassen, geht sie bis zu ihrer Kabine und verschwindet mit gesenktem Kopf. Gebeugt unter der Last eines sterbenden Sohnes.
Eine Minute später ertönt lautstarke Musik. Eine der alten Kassetten mit ihrer Lieblingsmusik. Die Lieder versetzt sie in eine bessere Zeit zurück, schätze ich. Eine Zeit ohne Kinder, ohne Rechnungen und Hausboot, ohne Trockner und ohne die permanente Möglichkeit, dass ihr Sohn die versprochenen zwölf Monate nicht schafft, wenn sie ihn nicht mit Gift vollpumpen lässt.
Moms Oldie-Kassetten konkurrieren mit dem mickrigen Stampfen und Stöhnen des Motors, während das Hausboot flussabwärts tuckert. Wir kommen an Häusern vorbei, die ich nur ein oder zwei Mal von einem Motorboot aus gesehen habe. In jeder halbrunden Bucht kauern sich ein paar Häuser in Gruppen zusammen.
If I had a hammer, I’d hammer in the mo-or-ning,
leiert es von hinten hoch. Ganze Wörter bleiben im Wind hängen und verhallen, während das Boot sich vorwärtsschiebt.
Ich bin kein Snob, was Musik angeht, echt nicht, aber die meisten dieser Kassetten sind furchtbar. Abgesehen vom monotonen Schrammeln auf der Gitarre – runter, rauf, runter, Dreierschlagtechnik, Lied um Lied um Lied –, sind die Bänder vorsintflutlich alt und so klingen sie auch. Es sind Lieder, die man sonst nur noch in Disney-Filmen fürErstklässler über die Geschichte der Musik vorgespielt bekommt. Meine Eltern hören tatsächlich auch Coltrane und andere bessere Sachen, aber jetzt bestraft Mom uns drei mit Peter, Paul and Mary, während sie in Wahrheit den Richter und das Jugendamt dafür bestrafen will, dass sie mir die Chemo aufzwingen.
Die frische Brise aus Südost in der Nase und neue Ausblicke vor Augen, sage ich mir, dass nach dem Essen alles besser wird. Das Leben geht weiter.
Aber es wird nicht besser. Es wird schlimmer. Mom weigert sich zu essen. Als Dad das Steuer an Nick übergibt, um mit ihr zu reden, schließt sie sich in ihrer Kabine ein. Ich ziehe meine Badehose an und hole ein Handtuch aus dem Stapel im Schrank. Da, wo die Sonne voll aufs Deck scheint, tanze ich barfuß ein bisschen herum und schwitze so stark, dass ich aussehe wie frisch geduscht. Die Vorstellung, gleich das kalte Wasser auf meinem Körper zu spüren, lässt mich vor Freude summen.
Ihr wisst das vielleicht schon, aber das Wasser in Virginia ist im Oktober nie so kalt wie im April, weil es die Wärme des Sommers noch umklammert wie ein Mädchen seinen Schatz auf der Achterbahn. Schwimmen, egal, in welchem Wasser, hat für mich immer
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