Fänger, gefangen: Roman
neunundneunzig Prozent der Fälle. Die meisten Leute vertragen die Medikamente aber ganz gut, also geht es vielleicht ohne das Kotzen.«
Ich muss lachen, weil der sonst so ernste Arzt diesen unmedizinischen Ausdruck verwendet. »Sonst noch was? Ich komme besser damit klar, wenn ich vorbereitet bin. Meine ... äh ... Fantasie ist manchmal schwer zu kontrollieren.« Ich zucke mit den Schultern, um ihm zu verstehen zu geben, dass ich es verkrafte. Trotzdem ist hier etwas nicht okay. Er gibt mir viel zu wenig Informationen für eine so komplizierte medizinische Therapie. Bestimmt sagt er nicht die ganze Wahrheit.
Doktor Morley wartet nicht auf meine nächste Frage. Er scheint im Kopf eine Liste durchzugehen. »Manche Leute kriegen Migräne. Hast du das schon mal gehabt?«
»Nein.«
»Wahrscheinlich wird dir vor allem übel sein«, sagt der Doc. »Aber die Chemo kann auch Ohnmacht hervorrufen oder Bewusstlosigkeit, Blackouts.«
»Gibt es da einen Unterschied?«
»Ja, Tiefe und Dauer sind verschieden«, sagt er. »Und der Gedächtnisverlust. Eine Ohnmacht ist normalerweise ein kurzer Zwischenfall, ohne dass sich dein allgemeiner Gesundheitszustand großartig verschlechtert. Blackouts sind ernster, schwerer.«
»Und die kann man nicht verhindern?«
»Das werden dir die Schwestern näher erklären«, will er mich beruhigen. »Falls du tatsächlich bewusstlos wirst, werden wir dich über Nacht zur Beobachtung dabehalten. Wenn deine Blutwerte schlecht sind, werden wir dich auch dabehalten.«
»Sind Sie der Arzt, der vor Gericht gegen meine Eltern ausgesagt hat?«, frage ich.
Wie ich an seinem Gesicht sehe, wird ihm in diesem Moment klar, dass ich die ganze Zeit auf diese eine Frage hinauswollte. Er setzt sich hinter seinen Schreibtisch, als wollte er sich schützen. Vielleicht will er auch nur seiner Position mehr Gewicht verleihen, so wie ein Richter eine Robe trägt, damit der Kriminelle bei der Urteilsverkündung seine Autorität bei Gericht eher anerkennt. Bei Tieren: männliche Prachtfarben-Dominanz-Reaktion. Bio, sechste Klasse.
»Ich wurde vorgeladen, Daniel«, sagt der Doc. »Ich hatte keine andere Wahl als auszusagen. Es geht einfach darum, wie wir dein Leben am besten retten können. Das ist es, was das Gericht will. Das ist es, was alle wollen.«
»Aber es gibt keine Garantie, richtig?«
»Nein, keine Garantie«, antwortet er. »Trotzdem haben wir keinen Grund, nicht davon auszugehen, dass die Standardtherapie bei einem aktiven und ansonsten gesunden Teenager wie dir nicht anschlägt. In vielen Fällen führt Chemotherapie nach kurzer Zeit schon zu Erfolgen. Und wenn nicht, können wir noch andere Verfahren testen. Dein Leben zu retten, ist das Ziel.«
»Falls das möglich ist.«
»Natürlich, falls. Wir sind keine Wunderheiler.«
Mom kommt rein, ohne anzuklopfen. »Er ist minderjährig, Doktor Morley. Sie haben kein Recht, in unserer Abwesenheit mit ihm zu sprechen, gerichtliche Anordnung hin oder her.«
»Er hat darum gebeten.«
Sie sieht geschockt aus und plötzlich sehr zerbrechlich, ganz und gar nicht die eigensinnige, taffe Person, die ich kenne.
»Ist schon gut, Mom, ich wollte nur wissen, wie das funktioniert«, versuche ich sie zu beruhigen. »Was ich zu erwarten habe.«
Sie will mein Gesicht zwischen ihre Hände nehmen, stoppt das aber in letzter Sekunde, weil ihr, glaube ich, einfällt, dass ich kein kleiner Junge mehr bin. Stattdessen formt sie mit den Lippen ein stummes Sorry. Aber sie weigert sich, Doktor Morley die ausgestreckte Hand zu schütteln. Als sie zum Fenster geht, ohne uns anzusehen, weiß er, dass die Sitzung vorbei ist, und verabschiedet sich mit einer Handbewegung Richtung Tür.
In der Zwischenzeit hat Dad den Papierkram mit der Arzthelferin erledigt. Sie hat Anweisungen für das Krankenhaus ausgedruckt, eine Terminbestätigung, dann die Arzneimittelhinweise aller Medikamente der Chemo (die Warnungen in Fettdruck) sowie ein Rezept für weitere Medikamente gegen Übelkeit für zu Hause. Dad zeigt mir alles, während Mom zur Toilette geht.
»Deine Mutter fährt, bevor deine erste Behandlung losgeht, wieder nach Hause«, sagt er, während er die Papiere zusammenfaltet und versucht, sie in seine Hemdtasche zu stecken. Natürlich ist der Stapel viel zu dick, und es sieht bescheuert aus, wie ihm das Ganze aus der Tasche ragt. »Um bei Nick zu sein. Das mit der Chemo könnte sich nämlich ganz schön hinziehen.«
Er sagt mir auch nicht die ganze Wahrheit, aber ich weiß
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