Fänger, gefangen: Roman
anrufen, was meinst du?«, flüstere ich Meredith zu.
Sie nickt. »Ja, tu das. Das wäre gut.«
Und lauter, zu beiden Mädchen: »Ich ruf euch morgen an. Oder heute noch ...«
Als Joe hupt, renne ich zum Wagen, weil er schon anfährt.
»Mann!« Joe will mich wieder auf den Arm boxen, hält aber im letzten Moment inne. »Das sind ja zwei süße Schnecken. Habt ihr gut hingekriegt, Mack und du.«
Ich werde ihm auf keinen Fall die ganze Wahrheit sagen. Dass ich überhaupt nichts Besonderes gemacht hab, um Eindruck zu machen. Ich bin von einer Brücke gefallen. Einfach ein dummer Zufall! Da zieht ein Paar Zwillinge zufällig neben meinem besten Freund ein, zufällig stellt er mich ihnen vor, wir gehen ganz zufällig angeln und dann endet es zufällig damit, dass sie uns mögen. Bis Joe McCollege nach Hause kommt. Ich kann mich nur freuen, dass er die meiste Zeit woanders wohnt.
»Und?«, fängt er wieder an. »Wolltest du mich noch was fragen? Brauchst du Kondome?«
11
Mom und Dad sind beim Abendessen gut drauf. Joe erzählt eine Geschichte nach der anderen über seine Kollegen im Wohnheim und die Professoren. Ein alter Typ schlurft rein, bleibt vor der Tafel stehen, grüßt den Kurs und stellt ein paar Fragen. Niemand antwortet. Die Studenten sehen sich verwirrt an. Der Professor wiederholt die Frage. Er mustert die Studenten Reihe um Reihe. Niemand sagt was. Er verlässt den Raum. Als er wiederkommt, hat er eine andere Mappe dabei. »Falscher Kurs«, sagt er.
Dad wiederholt die Pointe ungefähr sechs Mal, und wir lachen uns alle mehr kaputt, als dieser Witz es verdient, aber ich sehe diesen trotteligen Professor direkt vor mir, wie er sich fragt, was los ist, weil keiner die Antwort weiß. Dabei haben sie noch nicht mal das Buch gelesen.
Nick meldet sich nach dem Essen freiwillig zum Spülen. Erstaunlich. Joe schleppt seinen Rucksack in die Hauptkabine, schaltet alle Lichter ein und macht es sich auf dem Sofa gemütlich. Er packt sich ein Kissen auf den Schoß und legt ein Buch drauf.
»Darf ich Mack anrufen?«, frage ich Dad.
Als ich wieder zurückkomme, ist die ganze Sache mit der Halloween-Party und den Zwillingen geklärt. Aber Mom geht mit großen Schritten auf und ab, und Joe hat sein Buch zugeklappt.
Er runzelt die Stirn genau wie Dad, was mir vorher noch nie aufgefallen ist. Er ist ganz in das Gespräch vertieft und bemerkt mich gar nicht. »Ich versteh nicht, warum der Anwalt sie nicht stoppen kann«, sagt er zu Mom.
Moms Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen. »Anscheinend ist das ein besonderes Gesetz. Um Kinder zu schützen. Als Eltern haben wir keine Rechte. Sie haben uns schon für schuldig befunden. Vernachlässigung und Misshandlung. Es stand in allen Zeitungen. Sie haben diesen besonderen Antrag eingereicht, der besagt, dass Daniel ein Kind mit Pflegebedarf sei. Sie haben beantragt, dass das Gericht die Behandlung ohne unsere Einwilligung anordnet.«
Jetzt sieht Joe mich fragend an.
»Ich kann nichts dazu sagen«, sage ich. »Die lassen mich nicht mal zu den Anhörungen gehen.«
»Aber willst du denn diese Behandlung – Chemo, Bestrahlung oder was auch immer?«, fragt er nach.
Es entsteht eine spannungsgeladene Stille, als ob gleich ein Luftballon platzt, wenn du weißt, dass du mit ihm an was Scharfes oder Heißes gestoßen bist.
Mom schlägt die Hände zusammen und hält sie vor den Mund, schockiert darüber, dass diese Frage überhaupt gestellt wird. »Natürlich will er die Chemo nicht. Misty behandelt ihn mit Kräutern und Vitaminen, und ihm war schon seit Tagen nicht mehr schlecht. Es geht ihm besser. Er hat auch wieder mehr Farbe bekommen.«
Um die Wahrheit zu sagen, hab ich keine Ahnung, wo an mir irgendwelche Farbe sein soll, ganz zu schweigen davon, was sich verändert hat. Von sechs Stunden schlafe ich zwei. Meine Knie und Ellbogen tun weh, als wär ich hundert Jahre alt. In meinem Gesicht ist kein einziger Pickel mehr, als ob sogar Fett und Schmutz sich aus Angst vor dem heranschleichenden Krebs zurückziehen würden. Wenn ihr mich fragt ... aber noch während Joe die Frage ausspricht, die sonst noch niemand gestellt hat, wird mir klar, dass mich bei dieser ganzen Chaos-Nummer von Anfang an keiner gefragt hat, was ich will. Und jetzt, wo das Gericht und der Bezirk und meine Eltern sich im Krieg befinden, sind alle viel zu sehr damit beschäftigt, ihre eigenen Schutzwälle hochzuziehen.
Nick liegt in seiner Koje, als ich in die Kabine gehe, um einen Pulli zu
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