Fänger, gefangen: Roman
rudern.« Ich stelle meinen Teller mit dem halb gegessenen Omelett in die Spüle. Wenn wir einen Hund hätten, gäbe es nicht so viel Verschwendung. Aber ich kann direkt hören, was Mom zum Thema Hund als Keimfabrik erzählen würde. »Wann fährst du wieder zur Uni, Joe?«
»Bald. Ich muss bis Dienstag eine Seminararbeit abgeben und sollte mal langsam mit der Recherche anfangen.«
Als Mom und Dad loslegen, dass man sich immer gut vorbereiten und alles im Blick haben muss, schlüpfe ich nach draußen. Joe ist okay.
Der Creek sieht wie eine große braune, unbedruckte Papiertüte aus, kein Fleck, kein Knick, nicht mal ein Otter, der im Schlamm beimRiedgras sonnenbadet. Wäre jetzt Juli, wäre es viel zu heiß, um hier im Ruderboot zu sitzen, doch Oktober ist perfekt. Mein Kopf wird gegrillt, aber an meinem Hals und an den Armen, wo ich die Ärmel hochgekrempelt habe, ist die Luft kühl. Ich hab’s nicht eilig, will nirgendwohin, kein Plan. Das Boot ist uralt, der Rumpf aus Metall mit ein paar Dellen, die bestimmt Geschichten erzählen könnten. Dad hat Holzbänke eingesetzt, nachdem er es im Schilf gestrandet fand. Mit seinen vierzig unterschiedlichen, an verschiedenen Stellen abgeblätterten Farben sieht der Bootsrumpf aus wie moderne Kunst.
Wenn ich wie jetzt allein bin, weg von meiner Familie, kann ich viel besser denken. Ich weiß nicht, wie Holden es so lange an der Pencey oder den anderen Internaten, auf die seine Eltern ihn geschickten hatten, ausgehalten hat. Mit Typen wie Ackley und Stradlater, die ständig einfach so in sein Zimmer kommen und gehen, sein Zeug benutzen und ihn stören, selbst wenn er auf dem Klo ist. Privatsphäre ist mir sehr wichtig. Wenn der einzige Weg da raus gewesen wäre, die Hausarbeiten nicht zu schreiben und die Tests nicht zu bestehen, hätte ich wohl dasselbe gemacht.
Nicht, dass ihr denkt, ich wär ein Spinner oder so was, aber ganz allein draußen auf dem Fluss führe ich mit Holden die besten Gespräche. Er weiß, wie es sich anfühlt, bei allem außen vor zu sein. Als er dieses Buch von Tania Blixen alias Isak Dinesen über Afrika gelesen hatte,
Afrika – dunkel lockende Welt
, wollte er die Autorin am liebsten anrufen und mit ihr reden. Das kann ich voll verstehen. Ich wünschte auch, ich könnte Holden jetzt anrufen.
Mack ist ein prima Freund, aber er liest nicht gerne, und er sagt nicht immer die Wahrheit. Er übertreibt, damit das, was er erzählt, interessanter klingt. Nicht, dass mir das viel ausmacht. Auch wenn er es nicht zugibt, weiß ich, wann er anfängt, nicht echt zu sein. Aber ich finde das nicht okay. Es ist eine Charakterschwäche, die er dauerhaft canceln muss. Immerhin hab ich aufgehört, meinen Kaugummi an den Bettpfosten zu kleben, als ich neun war.
Ha-ha!
Dad sagt, normalerweise wachsen Menschen aus ihren schlechten Angewohnheiten raus wie aus Kleidern. Es passieren Dinge, an denen sie erkennen, wie zerstörerisch die Angewohnheit ist. Aber wie auch immer – schlechte Angewohnheiten stehen den wichtigen Dingen im Leben auf jeden Fall im Weg. Sie halten dich zurück. Sagt Dad. Ich bin der Erste, der zugibt, dass er ein paar schlechte Angewohnheiten hat. Ich bin ganz bestimmt besessen von Meredith, aber zumindest gilt das nicht mehr für Mädchen im Allgemeinen. Ich bin ungesellig. Nicht, dass ich nicht gerne mit anderen zusammen bin. Aber es gibt gewisse Menschen, mit denen ich nicht in einem Raum sein möchte. Man sollte meinen, ich könnte mich auf ihre guten Eigenschaften konzentrieren und die schlechten einfach nicht so wichtig nehmen. Das hab ich auch versucht, aber diesen Menschen was vorzumachen, wäre meiner Ansicht nach noch uncooler.
Holden hat jede Menge schlechte Angewohnheiten, und das weiß er auch. Er will so sehr ein ganz normaler Typ sein, dass er sich auch mit Trotteln abgibt. Er will nicht, dass ihm irgendjemand sagt, was er tun soll. Er hat Probleme, Prioritäten zu setzen. Das Problem hatte ich auch mal, aber jetzt nicht mehr. Mit der KRANKHEIT kommt man besser schnell zur Sache.
Er spricht es zwar nicht an, aber Ehrlichkeit ist für Holden auch ein Thema. Ich persönlich glaube, er hat es fast geschnallt. Andern gegenüber so ehrlich zu sein, dass du sie verletzt, ist nicht unbedingt nötig, aber bei manchen Dingen ist es ganz entscheidend, ehrlich zu sein. Wenn Meredith zum Beispiel nicht wüsste, dass ich krank bin, müsste ich es ihr sagen, bevor wir zusammen schlafen. Das ist jetzt natürlich rein hypothetisch. Ich
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