Fänger, gefangen: Roman
der untersten Schublade. Mom gibt mir saubere Socken.
»Ist das so’n Weihnachtsmannding?« Ich bin immer noch nicht ganz wach.
Sie schnieft und hüstelt ein halbherziges Lachen. »Es ist März, Schätzchen. Komm, beweg dich. Ich weiß nicht mehr, was sie gesagt haben, wie das mit der Sicherheit und dem Gepäck am Flughafen läuft.«
Während ich die Schuhe zubinde, wiederhole ich murmelnd ihre Worte und frage mich, was Dad von alledem hält. Ob er überhaupt davon weiß. Ich sitze vornübergebeugt im Dunkeln, sehe aus dem Augenwinkel ihren penetranten Schatten im Türrahmen und ahne, dass sie das hier – was auch immer es ist – ohne sein Wissen tut. Wie sollte es sonst sein?
»Beeil dich«, drängt sie mit jenem Ton in der Stimme, der keinen Protest duldet.
Wir fahren eine Ewigkeit. Ich schlafe und wache nur hin und wieder auf und sehe verzerrte Schilder an uns vorbeisausen, leuchtende Buchstaben auf grünem Filz, unlesbare Sprachen, wie unbewusste Botschaften in einem Traum. Bevor ich die Worte aussprechen kann, um ihre Bedeutung zu erfassen, haben schwarze Tunnel aus Bäumen die blitzartigen Mahnmale der Zivilisation ersetzt. Mir ist schrecklich schwindelig. Mom fährt so konzentriert, dass sich ihre Schultern zu einem Panzer nach vorn gekrümmt haben und ihr Kopf wie bei einer Schildkröte daraus hervorschaut. In einer Art verrückter Symbiose spähe ich in ähnlicher Position über das Armaturenbrett und fixiere die Rücklichter des Wagens vor uns. Sie sind in diesem Chaos das einzig Stabile, sodass sich mir der Magen nicht umkehrt. Das Nächste, was ich wieder richtig mitbekomme, ist, dass Mom an der Parkschranke des Washingtoner Flughafens den Wagen verlangsamt und ich aufwache.
DULLES AIRPORT, LANGZEITPARKEN, lese ich. BITTE MERKEN SIE SICH BEREICH UND PARKPLATZNUMMER.
Obwohl ich in der Dunkelheit Reihen von geparkten Autos sehe, ist das Terminal fast menschenleer. Mom steuert zielstrebig auf eine Rolltreppe zu und scheint davon auszugehen, dass ich schon folgen werde. Zehn Stufen unter ihr bin ich ganz beeindruckt, wie selbstsicher sie sich an diesem fremden, futuristischen Ort bewegt. Auf der oberen Ebene bleibt sie vor einem Computerbildschirm stehen und drückt mit den Fingern darauf herum wie eine Klavierspielerin, die ihre Noten auswendigkann. Meine Mom, eine gewandte Reisende – wieso hab ich davon nie was mitbekommen? Als ein Papier aus der Maschine herauskommt, nimmt sie es, drückt auf einen Knopf und nimmt auch das zweite Papier, das sich ihr entgegenschiebt. Nach einem Seitenblick auf das Flughafenpersonal an den Schaltern, winkt sie mir mit den zwei Papierstreifen zu und marschiert in Richtung einer Glaswand und einer Schlange von Passagieren, die alle so entschlossen und zielstrebig aussehen wie sie.
Sicherheitskontrolle: Auf Schildern steht, man solle seinen Pass bereithalten. Ich habe das schon in Filmen gesehen, sonst wäre ich jetzt nervös, wegen des Schlangestehens, um gecheckt und durchgelassen zu werden, weil auch Holocaust-Opfer treuherzig taten, was man ihnen sagte. Mom reicht mir meinen Pass – ich wusste nicht mal, dass ich einen besitze –, und wir gehen nacheinander durch den Metallrahmen, als würden wir so was andauernd tun.
»Sollten wir nicht Dad anrufen und ihm sagen, dass wir sicher angekommen sind?«
»Nein.« Die Antwort kommt kurz und knapp.
»Wird er sich denn keine Sorgen machen?«
»Nein.« Zehn zu eins, dass sie es ihm nicht gesagt hat.
Mein armer Vater hat sein ganzes Erwachsenenleben damit verbracht, ehrlich und anständig zu sein. Und hier stiehlt seine Frau sich im Dunkeln davon und bricht laut Henry Nichtstuer Walker jedes erdenkliche Gesetz in Staat und County. Kein Wunder, dass sie Dad nichts erzählt hat. Wenn er nichts davon wusste, können sie ihn nicht als Komplizen drankriegen.
Es wird ihn verrückt machen, dass sie das Gegenteil von dem tut, was sie in vielen Stunden und Wochen gemeinsam diskutiert und entschieden haben. Dass sie nicht nur seinen Ärger, sondern auch die Haftstrafe, die ihr laut Walker sicher ist, in Kauf nimmt, zeigt, wie sehr Mom mich liebt. Und wie sehr sie darauf vertraut, dass diese Heilbehandlung in Mexiko anschlägt.
Ich hätte auf Meredith hören und mir die Webseite genau ansehen sollen, solange ich es noch konnte. Es wäre schön zu wissen, was jetzt kommt. Ich bin schon wieder erschöpft, und wir sind noch nicht mal im Flugzeug. Aber Mom hätte das alles nicht riskiert, wenn sie nicht davon überzeugt
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