Fänger, gefangen: Roman
Schild fällt hinter ihm zu Boden wie ein abgestürzter Flugdrache. Wir haben keine Wahl, als ihm zu folgen. Moms Lächeln klebt auf ihrem Gesicht, und sie legt eine Hand auf meinen Arm, damit ich ihr nahe bleibe. Wir sind nicht mehr in Kansas. Nein, wie Dorothy aus
Der Zauberer von Oz
haben auch wir unsere Heimat verlassen.
Der Dodger-Fan, unser Begrüßungskomitee, fährt den alten Mercedes die mexikanischen Berge rauf und runter, überall nur Sand und Schiefer. Hin und wieder sieht man Wasserrinnen mit blassgrünem Bewuchs, aber das meiste ist freie Fläche. Der Himmel ist kobaltblau. Ungelogen: tiefblau, fast lila. Und wenn man ihn aufschneiden könnte wie eine Melone, wäre er innen drin immer noch blau, das möchte ich wetten. Ich wünschte, ich hätte daran gedacht, meine Kamera mitzunehmen. Meredith würde die Farben lieben. Mr McIntyre hat einen Arm über den Rücken seiner Tochter gelegt, ihr Kopf ruht auf seinen Knien. Sie schnarcht leise, unterbrochen von röchelndem Husten. Mom tupft sich mit einem Taschentuch über die Augen. Sand, denke ich, frage aber lieber nicht nach.
Die Klinik besteht aus drei weiß getünchten Gebäuden mitten in der Wüste. Auf der einen Seite ist der Schlaftrakt für die Männer: MEN, auf der anderen Seite der für die Frauen: OMEN. Mack würde die Stepford-Hanes’sche Ironie des fehlenden Buchstabens gefallen. Zwei Fußwege führen zu einem flachen, L-förmigen Gebäude in der Mitte, vermutlich Büros und Behandlungsräume und vielleicht eine Art Cafeteria, obwohl ich nicht weiß, ob die hygienischen Umstände hier das Miteinander von Kranken und Gesunden gestatten. Rechts und links der staubschüsselartigen Zufahrt stehen nur Kakteen und irgend-welches Unkraut im Sand. Es gibt keine extra Ausfahrtstraße.
Um euch die Wahrheit zu sagen: Trotz der Schäbigkeit und der aufgetürmten Müllhaufen hie und da gefällt es mir. Es ist aufrichtig und ehrlich, ohne Kinkerlitzchen, ohne gestylte Empfangslounge mit Hochglanzreisemagazinen. Hier nimmt man die Sache ernst. Und wenn es so runtergekommen aussieht, kann es ja nicht allzu teuer gewesen sein. Schwer zu sagen, was Mom denkt, sie ist ganz still. Ich frage mich, ob sie etwas Freundlicheres, Zuvorkommenderes erwartet hat.
»Ich bin am Verhungern«, sagt Mr McIntyre unserem Fahrer. »Haben Sie hier wohl Nachos oder ...«, er stößt mich mit dem Ellbogen an. »Wie heißen diese anderen Dinger, die die Mexikaner immer machen?«
»Quesadillas?« Ich kann nicht besonders viel Spanisch.
»Ja. Kä-so-di-dahs.«
Ich korrigiere ihn nicht. Der Fahrer ignoriert uns auf dem Rücksitz und spricht vorne mit Mom. »Abendessen, vier Uhr. Nach Treffen Doktor Jenkins. Jetzt waschen. Treffen halb zwei in weiße Gebäude.« Er zeigt darauf. Als Mom versucht, den Kofferraum zu öffnen, um unser Gepäck zu holen, scheucht der Fahrer uns weg. »Ich bringe Zimmer. Zu heiß. Sie reingehen.«
Zehn Minuten und einen Toilettengang später sitzen wir auf Plastikklappstühlen im Kreis und starren uns gegenseitig an. Sieben Erwachsene und vier Kinder. Es ist nicht schwer, die kranken Erwachsenen von den gesunden zu unterscheiden. Mr McIntyre und seine Tochter sindnicht dabei. Auf die Sekunde pünktlich marschieren der Arzt und seine Belegschaft, fünf Mitarbeiter, in die Begrüßungsrunde, als wäre es ein militärischer Drill. Auf dem ersten Namensschild steht DiR. PABLO JENKINS, wobei das erste i tatsächlich so klein geschrieben ist, damit es von Weitem wohl wie
DR.
aussehen soll.
Keiner der Mitarbeitenden wird als Arzt vorgestellt, nur mit Vornamen, was sie für Mom sicher noch glaubwürdiger macht. Eine Schwester in Weiß, auf deren Namensschild MARTINA steht, versucht, ein Video einzulegen, aber das Band bleibt im Rekorder stecken. Der Direktor ist die Ruhe selbst. Er wiederholt ein paar Sachen und lächelt breit, wobei er seine perfekten, weiß strahlenden Zähne zeigt, während Martina an dem Gerät herumfummelt und das Band schließlich zum Laufen bringt.
Danach kommen alle Familien im Empfangsraum zusammen. Die Belegschaft in ihren unterschiedlich weißen Hemden und Hosen geht mit Klemmbrettern herum und lässt die Eltern Formulare ausfüllen. Die Erwachsenen tauschen eifrig Informationen aus, um sich gegenseitig zu versichern, dass es nicht verrückt war, in diese Wildnis rauszufahren. Die Kinder schweigen. Ich versuche, nicht auf einen Jungen zu starren, der jünger ist als Nick und schon keine Haare mehr hat. Er stützt einen Kniestumpf
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