Fänger, gefangen: Roman
schon zu spät für uns? Ich meine nicht für Daniel, sondern für den Richter und unsere Verurteilung.«
»Oh, nein!« Senator Yowell schüttelt den Kopf wie ein Zocker am Pokertisch in einem Hollywoodfilm. Er spielt den Ich-steh-direkthinter-euch-Aufrichtigen. »Die Gerichte wissen noch nichts von dem neuen Gesetzentwurf. Und der Aufschub durch die Anfechtung sollte euch helfen. Nimmt euch aus dem Rampenlicht. Ein Richter kann dann später umschwenken, wenn Richmond sich nur laut genug meldet.«Seine Stimme wechselt vom Mann-mit-Verantwortung-Modus in den Krankenpfleger-Modus. Megaschleimig. »Sylvie, ich bitte euch ja nicht, Partei zu ergreifen oder öffentlich aufzutreten. Ich brauche nur eure Zustimmung zum nächsten Schritt. Was mit dir und Stieg passiert ist, liefert den Delegierten ein klares Bild. Ich bin egoistisch genug zuzugeben, dass eure Situation genau das ist, worauf wir gewartet haben, um die Einmischung des Staates in Familienangelegenheiten einzuschränken.«
Mom versagt beinahe die Stimme. »Werden wir vor dem Ausschuss aussagen müssen?«
»Das wird wohl nicht nötig sein. Ihr habt schon so viel getan. Den Rest könnt ihr uns überlassen.«
Dad macht ein skeptisches Gesicht. »Bist du sicher, dass die Presse sich nicht auf Daniel stürzen wi...«
»Die Leute vom Jugendamt werden schreien«, unterbricht ihn Mom. »Diese Frau wird das nicht einfach auf sich beruhen lassen. Sie wird dagegen ankämpfen. Du weißt, dass sie das tun wird. Wahrscheinlich steht ihr Job auf dem Spiel, wenn sie nicht genug Leute drankriegt: soundso viele nachgewiesene Vernachlässigungen, soundso viele Kinder zu Pflegeeltern. Sie ist immer noch sauer, dass wir Unterstützung aus dem Hilfsfonds von Medicaid bekommen, nachdem unsere Ersparnisse für das Hausboot draufgingen.«
Das ist mir neu. Und es haut mich um. Die ganze Zeit über dachte ich, Mom und Dad hätten sich bis aufs Blut verschuldet, um mich auf diesem blöden Hausboot von Keimen fernzuhalten. Dabei haben sie in Wahrheit das System manipuliert. Vielleicht sogar betrogen.
»Daniel.« Dad sieht wahrscheinlich, wie mir die Flammen aus den Ohren schießen. »Über Medicaid können wir später reden.«
»Nein, nicht später und nicht jetzt.« Ich stehe auf. »Ihr seid doch alle gleich. Macht Deals, tauscht Schulunterricht gegen Bluttransfusionen, verhandelt über mein Leben.« Wehe, wenn Senator Yowell jetzt über mich schmunzelt! Wütend sehe ich zu Dad. »Kein Aye-aye, Sir, abergerne,Sir mehr! Macht doch alle, was ihr wollt mit euren Deals und Tauschgeschäften und sonst was, aber lasst mich aus dem Spiel!«
Ich bin schon halb bei Meredith, als der Windschutz vor unserer Haustür gegen den Rahmen schlägt. Ich höre ihn laut zuschlagen, und aus dem Augenwinkel sehe ich Dad in Hemdsärmeln auf der vorderen Treppe. Er reibt sich vor Kälte die Arme, sagt aber nichts, während ich verschwinde, sondern sieht mir nur nach. Gutes Training, Dad, gutes Training.
16
Manchmal, im Januar oder Februar, fegt ein besonderer Wind aus dem Osten über den Fluss. Furchterregend, so wie Tornados in Virginia, und kein normales Wettervorkommen. Der Ostwind kommt klammheimlich und verbreitet diese Stimmung, als wenn kleine Kinder auf den Weihnachtsmann warten, aufgekratzt, aufgeregt, aber auch ein bisschen ängstlich. Nicht wie die Glockenschläge eines Ringrichters beim Wrestling, wenn der Nordostwind kommt. Nicht wie diese unangenehm kitzelnde Julibrise aus dem Süden, die dich wie eine komische Alte am Arm streichelt, bis du reingehen musst, um vor dieser Brechreiz verursachenden Süße zu flüchten.
Der Ostwind kommt nur mitten im Winter, zur Eisbärenzeit, die in diesem Teil von Virginia selten ist. In manchen Wintern wird es nie so kalt. Aber wenn er kommt, treibt er laut und protzend über den offenen Fluss. Er greift spielerisch neckend ins Riedgras. Er setzt Eiszapfen unter Autos und lässt Abflussrinnen zufrieren. Keiner von diesen Fernsehwettermenschen in ihren zirkusbunten Jacketts mit passenden Taschentüchern und Um-Gottes-willen-bitte-nicht-Stimmen kann ihn vorhersagen. Aber wenn er kommt, fühlt es sich an wie ein Bilderbuch aus der Kindheit, an das du dich vage erinnerst und nur vergessen hast, bis der Wind es dir wiederbringt.
Die Worte unter dem Wind sind wie Merediths Finger auf meinem Rücken, die sich in meine Haut krallen, mich hart machen und mir sagen, dass ich schnell machen soll. Es ist ein unbestimmtes Gefühl, das ich nicht genau beschreiben
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