Fänger, gefangen: Roman
kann sehen, dass es ihm schwerfällt, ihr was abzuschlagen. Ich überlege, wie viele andere Behandlungen sie wohl schon versucht haben.
Mom lässt Bethany und mich zusammensitzen und nimmt einen Stuhl in der hintersten Reihe. Fast alle Jugendlichen sind geblieben und ein paar Erwachsene, trotzdem sind die meisten Plätze leer. Direktor Jenkins’ Klinik hat wohl schon bessere Tage erlebt. Während sie den Film einlegen und den Buffettisch abräumen, frage ich Bethany ein bisschen aus.
»In der Schule haben sie Angst vor mir«, berichtet sie. »Vor allem die Jungs. Sie verstehen Krebs nicht. Sie denken, es ist wie Grippe und dass sie sich anstecken können.«
»Die Leute sind so blöd. Hattest du Chemo?«
»Dadurch bin ich so dünn geworden«, sagt sie. »Du wirst es nicht glauben, aber ich war fett. Ich meine richtig fett, mit Übergröße und so. Pizza und Pommes und extra dicker Schokoladenkuchen. Seit meine Mom weg ist, lässt Daddy mich alles essen. Ich glaube, er fühlt sich schuldig.«
»Dass du krank geworden bist?«
»Nein«, antwortet sie. »Dass er meine Mutter vertrieben hat mit seinen Zockerfreunden und den ständigen Reisen zu Autorennen. Sie haben die ganze Zeit gestritten. Und sie hat viel Wein getrunken.«
»Mein Vater ist bei den Anonymen Alkoholikern.«
»Oh, meine Mutter«, sagt Bethany, »ist keine Alkoholikerin. Als sie von Dad weg war und sich nicht mehr ärgern musste, hat sie sofort aufgehört zu trinken. Das zeigt doch, dass sie ihn nie wirklich geliebt hat.«
»Ich mag deinen Vater«, gebe ich offen zu. »Er ist ein bisschen laut, aber er hat dich wirklich lieb.«
»Ich weiß«, sagt sie. »Mom hat ihn nur geheiratet, weil er reich war. Es war für beide nicht gut.«
»Wie alt bist du?«
»Fast neunzehn.«
»Ich hätte dich auf vierzehn geschätzt.«
»Vielen Dank.«
»Ich wollte dich nicht beleidigen. Ich denke, das kommt, weil du so dünn bist.«
»Dafür kann ich dem Krebs danken.«
»Hast du einen Freund?«
»Ich hatte. Er hat Schluss gemacht, als mir die Haare ausfielen.«
»Ja, Perücken sind nicht so cool.«
Sie sieht mich komisch an und kneift die Augen zusammen, und ich merke, dass sie rausfinden will, ob ich eine Perücke trage.
»Oh, nein.« Ich lache. »Chemo ist Gift, denken meine Eltern.«
Sie lacht nicht. Die Lichter gehen aus, und der Film fängt an, mit körnigem Bild auf der weißen Wand und quietschender Kassette. Vielleicht ist sie beleidigt, weil sie denkt, ich würde mich über Chemo lustig machen. Ich überlege krampfhaft, wie ich das Thema wechseln könnte, verwerfe sechs oder sieben Ideen, bis die Figuren an der Wand zu sprechen beginnen.
»Warum wolltest du diesen Film unbedingt sehen?«, flüstere ich.
»Wollte ich gar nicht. Aber ich habe ein Doppelzimmer mit der Frau, die den Sauerstofftank hat.«
»Wie alt ist die?«
»Siebenundzwanzig«, sagt Bethany. »Sie hasst ihre Mutter, und das ist alles, worüber sie redet. Ich versuche immer, das Thema zu wechseln, oder sage einfach gar nichts, aber sie schimpft und schimpft und schimpft.«
»Ich habe Glück«, sage ich. »Und ein Einzelzimmer. Ich könnte die Betten sogar abwechselnd benutzen.«
»Vielleicht komme ich mal und klau dir eins.«
»Von mir aus. Aber auf dem Gebäude steht MEN, wie willst du das hinkriegen?«
Sie zuckt mit den Schultern und dreht ihr Gesicht zur Leinwand, als wäre es das Sonnenlicht.
Montagabend nach dem Essen ist mir so langweilig, dass ich das Scrabble-Spiel aus der Sammlung im Speisesaal ausleihe. Nick würde die Krise kriegen, wenn er das wüsste. Bethany geht nach dem Essen mit ihrem Vater weg. Ich kann ihre Silhouetten in der untergehenden Sonne sehen, als ihr Dad sie in ihren Schlaftrakt bringt. Kleine Staubwolken wirbeln ihr um die Füße, während sie über den Sandweg schlurft. Nachdem ich Mom Gute Nacht gesagt habe, gehe ich in mein Zimmer, breite die Buchstabensteine aus und spiele gegen mich selbst. Um halb neun kann ich die Augen kaum noch offen halten. Nur mit den Boxershorts bekleidet, lege ich mich auf die Bettdecke und hole den
Fänger
raus. Sie waschen das Bettzeug jeden Tag und ziehen frisches auf, das fast knistert, weil es draußen in der heißen Sonne getrocknet ist. Eine blaue Bettpfanne steht am Fuß des Bettes. Wir wurden davor gewarnt, nachts das Gemeinschaftsklo der Männer zu benutzen, wegen der Skorpione.
Holden ist betrunken, als er Sally anruft, um sich zu entschuldigen. Vielleicht wollte er witzig sein, aber es war irgendwie
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