Fahrenheit 451
aufgesessen? Blumen, Schmetterlinge, Herbstlaub, Sonnenuntergang, ach herrje! Haben wir alles in der Kartei notiert. Aha, das war scheint's ein Volltreffer. Sieh sich einer diese Duldermiene an. Ein paar Grashalme und die Mondsichel. So ein Kitsch. Was hat es ihr je genützt?«
Montag saß auf der kalten Stoßstange des Drachens und bewegte den Kopf einen Fingerbreit nach links, einen Fingerbreit nach rechts, nach links, rechts, links, rechts, links ...
»Sie hielt die Augen offen. Getan hat sie niemandem etwas. Sie ließ die Leute in Frieden.«
»In Frieden, hat sich was. An dir hat sie doch 'rumgeknabbert, nicht? Ein scheinheiliger Tugendbold war sie, von denen, die nichts können als andern ein schlechtes Gewissen beibringen. Verdammt noch mal, wie die Mitternachtssonne gellen sie auf, um einem noch im Bett den Schweiß hervorzutreiben.«
Die Haustür ging auf; Mildred kam die Stufen heruntergelaufen, einen Koffer krampfhaft in der Hand, während ein Taxi herangeflitzt kam.
»Mildred!«
Sie lief an ihm vorüber, das Gesicht mit Puder bestäubt, der Mund verblichen, ohne aufgelegtes Lippenrot.
»Mildred, du hast doch nicht etwa Anzeige erstattet?«
Sie schob den Koffer in das wartende Taxi und stieg ein, wobei sie ständig von sich hin brabbelte. »Die arme Familie, die arme Familie, ach, alles ist im Eimer, alles, alles im Eimer ...«
Beatty packte Montag an der Schulter, während das Taxi davonschoß und dann auf hundert Kilometer ging und verschwand.
Ein Klirren war zu hören, als bräche ein Traum aus Glas, Kristall und Spiegeln auseinander. Montag schwankte wie von einem unbegreiflichen Sturmwind herumgeworfen und sah Stoneman und Black mit dem Beil Scheiben einschlagen, um für Zugluft zu sorgen.
Das Flattern eines Totenkopffalters gegen ein kaltes, schwarzes Gitter. »Montag, hier spricht Faber. Hören Sie mich? Was geht denn vor?«
»Es geht mir an den Kragen«, erwiderte Montag.
»Was für eine unangenehme Überraschung«, höhnte Beatty. »Jedermann heutzutage weiß doch, jeder ist fest überzeugt, daß es nie ihm an den Kragen geht. Andere kommen um, er kommt davon. Es gibt keine Folgen und keine Verantwortung. Nur daß es sie eben doch gibt. Aber sprechen wir lieber nicht davon, wie? Wenn einen die Folgen ereilen, ist es ohnehin zu spät, nicht, Montag?«
»Montag, können Sie weg, fliehen?« fragte Faber.
Montag tat ein paar Schritte, ohne den Boden unter den Füßen zu spüren. Nicht weit von ihm weg knipste Beatty sein Feuerzeug an, und das gelbe Flämmchen zog ihn in seinen Bann.
»Was ist es eigentlich, das uns am Feuer bezaubert? Ganz gleich, wie alt wir sind, was ist daran so Anziehendes?« Beatty pustete die Flamme aus und zündete sie wieder an. »Es ist die ewige Bewegung, das perpetuum mobile , das der Mensch erfinden wollte, ohne daß es ihm je gelungen wäre. Wenn man es gewähren ließe, würde es unser Leben lang brennen. Was ist das Feuer? Ein Rätsel. Wissenschaftler erzählen uns einen Schnickschnack von Reibung und Molekülen, aber im Grunde wissen sie es auch nicht. Seine Schönheit besteht wohl darin, daß es Folgen und Verantwortung verzehrt. Wird uns ein Fall zu beschwerlich, in den Ofen damit. Du beispielsweise, Montag, machst mir Beschwer. Das Feuer wird mir die Last von den Schultern nehmen, sauber, rasch, sicher; nichts Verwesliches bleibt übrig. Antibiotisch, ästhetisch, praktisch.«
Montag trat jetzt in dieses sonderbare Haus hinein, sonderbar geworden um die nächtliche Stunde durch das leise Stimmengewirr der Nachbarn, die herumliegenden Glasscherben und durch die Bücher am Boden, die mit abgerissenen Deckeln wie Schwanenfedern dalagen, diese unwahrscheinlichen Bücher, die so abgeschmackt aussahen und nicht wert, daß man viel Aufhebens davon mache, nichts als Druckerschwärze und vergilbtes Papier und verkrümmte Rücken.
Mildred, selbstverständlich. Offenbar hatte sie ihn dabei beobachtet, wie er die Bücher im Garten versteckte und hatte sie wieder hereingeholt. Mildred, Mildred.
»Ich will, daß du diese Arbeit ganz allein erledigst, Montag. Nicht im Kerosin und einem Streichholz, sondern stückweise mit dem Flammenwerfer. Jeder wische vor seiner eigenen Tür.«
»Montag, können Sie nicht fort?«
»Nein!« rief Montag verzweifelt. »Der Mechanische Hund! Wegen des Hundes!«
Faber hörte es, und Beatty, im Glauben, es gehe ihn an, hörte es auch. »Ja, der Hund ist irgendwo in der Nähe, mach also keine Dummheiten. Bereit?«
»Bereit.«
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