Fahrstunde in den Tod (Emsland-Krimi) (German Edition)
schnellste Stufe, trotzdem sah
sie kaum etwas, als sie einen neuen Überholversuch startete. Nachdem sie
zweimal laut fluchend den Fahrer des polnischen Lkw sonst wohin auf diesem
Erdball gewünscht hatte, verringerte sie den Abstand wieder und versuchte
erneut, an ihm vorbeizufahren. So wie sie es erst vor kurzer Zeit in der
Fahrschule gelernt hatte, beobachtete sie zuerst den Verkehr durch die Spiegel,
blinkte nach links, hielt dann das Lenkrad fest, schaltete einen Gang zurück,
zog dann mutig auf die Gegenfahrbahn und gab Gas. Der Motor des VW-Polo heulte
auf und beschleunigte den Wagen. Ihr Puls raste, als sie sich dicht neben dem
Lkw befand und sie in einiger Entfernung vor sich zwei Lichter auftauchten sah:
Gegenverkehr!
»Scheiße!
Das wird knapp!«, fluchte sie laut. Das Motorengeräusch des Polo ging in ein
Jaulen über. Ein Hochschalten vom dritten in den vierten Gang hätte ihn
sicherlich von seinen Qualen erlöst, doch das Adrenalin in Melanies Körper und
ihre Gedanken an den nahenden Tod hinderten sie daran.
Der
Fahrer des polnischen Lkw, den dies hier alles augenscheinlich nichts anging –
warum überholt die Tusse mich auch hier?, hatte er bestimmt gedacht –, behielt seine Geschwindigkeit bei und machte
keine Anstalten, etwas Gas zurückzunehmen.
»Das
war knapp!«, stöhnte sie, als sie das Weiße in den Augen des entgegenkommenden
Pkw-Fahrers gesehen hatte und die Scheinwerfer des überholten Lkw im
Innenspiegel auftauchten. Für solche extrem schwierigen Fahrmanöver fehlte ihr
noch die Fahrpraxis und ihr Herz klopfte heftig in der Brust. Geschafft! Der
Lkw-Fahrer aus dem Ostblock blinkte zweimal kurz auf, wollte ihr damit wohl
herzlich zum Weiterleben gratulieren.
Nur
kurze Zeit später, nachdem der vierte Gang eingelegt und der Motor von seinen
Qualen erlöst worden war, hatten sich auch ihr Puls und der Adrenalinspiegel
wieder normalisiert. Dann piepste ihr Handy, das griffbereit auf dem
Beifahrersitz lag. Ständige Erreichbarkeit, zu jeder Tages- und Nachtzeit an
jedem Ort auf dieser Welt war Melanie äußerst wichtig. Sie griff das Handy,
strich mit dem Daumen über das Display und öffnete WhatsApp. Wie ein Chamelion
beobachtete sie mit dem anderen Auge die Fahrbahn. Ihre Freundin aus Lingen
hatte gepostet und gefragt, ob sie denn schon in Meppen angekommen sei.
»Hallo?
Ich bin froh, dass ich lebe!«, stöhnte sie laut. Obwohl sie sich erst vor
wenigen Minuten voneinander verabschiedet hatten und selbst ein Düsenjet diese
Strecke in der Zeit nicht geschafft haben könnte, musste die Freundin trotzdem
mal nachfragen. Mit dem Mitteilungsdaumen der rechten Hand, die linke brauchte
sie zum Lenken, tippte sie die Antwort in Sekundenbruchteilen.
› Nein, bin noch unterwegs,
LG, Melli‹
Die
technischen Abläufe eines Überholvorganges hatte Melanie noch nicht
verinnerlicht, waren bei ihr noch nicht in Fleisch und Blut übergegangen. Das
einhändige Bedienen ihres Handys dagegen schon seit frühester Jugend. Und im
Unterricht in der Fahrschule, bei dem es um die Benutzung von Handys oder
sonstigen elektronischen Geräten während der Fahrt in Kraftfahrzeugen gegangen
war und der Fahrlehrer von der gefährlichen Ablenkung gesprochen hatte, musste
sie wohl nicht richtig zugehört haben. Möglicherweise war sie auch etwas
abgelenkt, weil sie SMS beantworten musste?
Das
machten übrigens alle Fahrschüler, sie beschäftigten sich mit den Handys, denn
im Unterricht fanden sie es sowieso langweilig und öde. Der Fahrlehrer, ein
etwas untersetzter Typ mit langen Haaren und in Jeansweste gekleidet, war ein
absoluter Verfechter des Frontalunterrichtes. Er warf ihnen ständig
irgendwelche Fremdworte um die Ohren. Damit wollte er wohl Eindruck schinden.
Mal erzählte er etwas von negativer Beschleunigung oder dann wieder von
proportionaler Verzögerung. Für die Fahrschüler alles ›Böhmische Dörfer‹. Dann
ging es um Fahrstreifen- und Fahrbahnbegrenzungen. Keiner wusste da was mit
anzufangen, sie gingen immer davon aus, dass es dasselbe war. Auch sein
Gekritzel an der Tafel, die er beim Schreiben mit seiner Körperfülle verdeckte,
half ihnen nicht weiter.
Sie
hatte ihre Zeit abgesessen und die Fragebögen auswendig gelernt. Meistens am
Sonntagnachmittag. So machte es eben jeder Fahrschüler, der kurz vor der
theoretischen Prüfung stand; mit Ausnahme derer, die den Sonntag zum
Ausschlafen benutzten. Die fielen aber häufiger durch die Theorieprüfung.
Melanie
Forstkotte wohnte in Meppen
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