Fahrt ohne Ende
letzten Zeit. Pah, wenn schon, dachte er, schließlich bin ich ja auch kein kleines Kind mehr...
Früher, da wäre er auch nicht einfach aus purer Langeweile ins Kino gegangen, so wie heute eben.
»Glück für Sylvia«, so hieß der Film, in dem er eben gewesen war. Früher — ja, da wäre er bestimmt nach den ersten zehn Minuten aus dem Kino gegangen bei einem solchen Film und hätte gesagt: Quadratmist. —
Ach zum Kuckuck, sagte Wolf zu sich selbst, früher, da hätte er auch nicht nachher so lange hin und her überlegt, — Schluß damit, es kam doch nichts dabei heraus! Er versuchte, sich ganz auf die Sachen in den beleuchteten Schaufenstern zu konzentrieren. Aber das gelang ihm einfach nicht. Es ließ sich nicht verdrängen, dieses Gefühl der Unzufriedenheit. Unzufriedenheit — ja, womit eigentlich? Hatte er denn Grund zur Unzufriedenheit?
In der Klasse hatte er. jetzt eine ganz andere Stellung als früher. Die Klassenkameraden sahen jetzt immer auf ihn, was er meinte, was er sagte, was er tat...
Sie hatte nicht vergessen, daß es nicht zuletzt Wolf gewesen war, der sie aus dieser heiklen Situation damals in der Tschechei herausgebracht hatte.
Und die Gruppe? Nun, sie hielten regelmäßig ihre Heimrunden — freilich, viel mehr auch nicht. Sie war ein wenig lahm in den letzten Wochen, die Gruppe. Und irgend etwas in Wolf sagte immer wieder: es ist deine Schuld, Wolf, daß die Gruppe lahm ist. In dir liegt der Fehler, nicht irgendwo anders. —
Ach, Unsinn, was waren das wieder für sonderbare Gedanken. Die Gruppe bestand, — wenn sie nicht so war wie früher, konnte er ja schließlich nichts dafür, entschied Wolf.
Als er um die Ecke der Schlieffenstraße bog, sah er, daß da irgendwas los war. Die Menschen drängten sich, die kleinen Kinder liefen eilig am Bordstein entlang...
Ah, da sah er es ja: eine Kolonne der HJ. kam die Straße heruntermarschiert. Gott, das konnte er sich ja auch mal ansehen! Wolf blieb stehen. Die Autos an der Kreuzung stoppten. Ein Verkehrsschutzmann hielt die Straße frei. Und da kamen sie heranmarschiert: vorn ein Zug genau gleich großer Jungen, alle peinlich genau in Jungvolk-Kluft, lange Landsknechtstrommeln vor sich, die Flammenbemalung der Trommeln grell, herausfordernd.
Wuchtig schlugen die Jungen im Takt des Marschzuges auf ihre dumpfdröhnenden, großen Trommeln, der Takt schlug in Wolfs Blut, sein Herz schlug mit den Trommeln mit, so: trum, trum, trum, trum, trum... Und dann jauchzten hinter dem Trommlerzug die Fanfaren auf, die Fanfaren, die silbern blitzten, an allen die kleinen Banner mit dem Zeichen der HJ.
Ein hartes Kommando: und im Takt des Marsches und der Trommeln und Fanfaren fielen die Jungen in das Lied ein, die Jungen, die in endloser, schnurgerader Reihe hinter den drei großen Fahnen herzogen, die leuchtend weiß auf schwarzem Grund die Siegrune trugen.
Hell brach sich der Widerhall des Liedes in den Straßenfronten, gesungen von vielen Hunderten heller, junger Kehlen:
Vorwärts, vorwärts,
schmettern die hellen Fanfaren;
vorwärts, vorwärts,
Jugend kennt keine Gefahren!
Und dann ein neues Lied, die Fanfaren schmetterten es einmal vor, dann fielen die Jungen ein:
Wir werden weitermarschieren,
wenn alles in Scherben fällt,
denn heute, da hört uns Deutschland,
und morgen die ganze Welt.
Der Schritt der marschierenden Kolonnen dröhnte auf dem Straßenpflaster. Wolf stand noch immer da. Da kam wieder eine Fahne: stolz trug sie der Junge auf der Schulter, aufrecht, mit blitzenden Augen im hellen Gesicht. Für einen Augenblick kreuzten die Blicke des jungen Fahnenträgers die Augen Wolfs. Wolf schien es, als ob diese Augen riefen: Komm, marschier doch mit in unsrer Reihe, Kamerad!
Da wandte sich Wolf um. Er ging nach Hause. Und nun war er noch unzufriedener, unzufriedener mit sich selbst als vorher. Das Bild der jungen Marschkolonnen ließ ihm keine Ruhe. Auch des Abends nicht, als er schon im Bett lag und sah, wie der Mondschein über das Fenster huschte, über die Klampfe, den Wimpel an der Wand...
Immer noch dröhnten ihm dumpf die Trommeln in den Ohren, der helle Ton der Fanfaren. Immer noch konnte er den Blick des Jungen mit der Fahne nicht vergessen. Er hatte auch sonst schon HJ.-Aufmärsche gesehen, größere sogar. Aber zum ersten Mal hatte er heute Lust verspürt, mitzumarschieren.
* * *
Ein paar Tage später. Sie saßen im Luftschutzkeller der Penne, es war wieder einmal Alarm gegeben was in letzter
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