Fahrt ohne Ende
Zeit so an der Tagesordnung war, daß die Schüler kaum noch ihr Vergnügen daran hatten, wenn der Unterricht wieder unterbrochen wurde.
Wolf saß durch Zufall nicht bei seinen Klassenkameraden, sondern unter etwas älteren Mitschülern. Sie kamen auch mit Wolf ins Gespäch. So ganz nebenbei erzählte auch einer vom letzten HJ.-Dienst.
»Gehst du da eigentlich gern hin?« fragte Wolf.
»Gern — och manchmal ist es ganz nett dort. Neulich waren wir auch mal schwimmen, da waren auch ein paar Mädel vom BDM. da; ich muß schon sagen, die eine, du kennst sie doch, Willi, die von der Schillerstraße...«
»Ah, die; klar, die kenn‘ ich...«
»Ja, da ist der HJ.-Dienst manchmal ganz vorteilhaft«, grinste ein anderer, »ist ja auch immer so gewesen: irgendwo mußt du mitmachen, früher, da war‘s hier Mode und guter Ton, bei den Schwarzen, den Katholischen mitzutun, da saßen die Pfaffen dahinter, und jetzt, da macht man eben bei der anderen Farbe mit.«
»Und wenn de Glück hast, dann kriegste ‘nen vernünftigen Führer und kannst die tollsten Dinger drehen, mit den Mädels und so. Kinder, wenn ich noch daran denke, wie wir im Lager in der Heide waren...«
Da stand drüben, auf der anderen Seite, ein Junge brüsk auf.
»Ihr seid Schweine«, sagte er und ging durch den Gang fort.
Wolf bekam einen roten Kopf. Aber jetzt auch aufstehn und weggehn, wo die anderen so höhnisch über den einen Jungen redeten: »Der spinnt ja!« »Ach, laß man, der wird auch noch vernünftig« und so, — nein, Wolf blieb sitzen. Aber er kam für den ganzen Tag nicht mehr los von der Szene dort im Luftschutzkeller. Auf einmal meinte er auch, das Gesicht des Jungen, der dort aufgestanden war, schon anderswo als in der Penne gesehen zu haben.
Am Abend mußte er eigentlich zur Runde zum Kaplan. Für einen Augenblick stand er oben auf seiner Bude und überlegte: ob er einfach nicht hinging? Er hatte wenig Lust. Sicher, die anderen würden auf ihn warten...
Aber er hatte ja auch noch etwas anderes warten lassen heute: nämlich einen Brief von Jürgen. Heute mittag hatte er auf dem Küchenschrank gelegen, wie immer. Nur hatte ihn Wolf nicht gleich geöffnet und gelesen, wie er es sonst tat. Er hatte ihn in die Tasche gesteckt, und da saß er jetzt immer noch, ungeöffnet und ungelesen. Wenn er jetzt zu Hause bliebe, dann würde wieder das Grübeln nicht aufhören wollen, sagte sich Wolf. Also zog er die Jacke an, ging die Treppe hinunter und machte sich auf den Weg zum Kaplan.
Als er an der Marienkirche vorbei zur Vikarie hinübergehen wollte, sah er die Seitentür der Kirche offenstehn. Und da wandte sich Wolf um und ging in die Kirche. Es war still dort. Die Kirche lag im Dunkeln. Nur vorn, am Altar, brannte das ewige Licht und warf einen matten Glanz auf die Gestalt des heiligen Sebastian an der rechten Altarseite. Vor dem Bild der Mutter Gottes von der Immerwährenden Hilfe kniete eine alte Frau. Sonst ist niemand in der Kirche, dachte Wolf. Aber im gleichen Augenblick fiel ihm ein, daß ja doch jemand anwesend war hier..., einer, dem man alles anvertrauen konnte.
Wolf kniete in einer der hinteren Bänke. Als er sich wieder erhob und die Kirche verließ, hatte die Runde beim Kaplan schon seit einer halben Stunde begonnen.
Wolf ging auch nicht mehr hinüber. Er wollte allein sein heute abend, allein mit sich selbst.
Nachher, zu Haus auf seinem Zimmer, nahm er den Brief Jürgens aus der Tasche und öffnete ihn. Eine Stelle daraus las er ein paar Mal. Da schrieb Jürgen:
...es ist bei Gott nicht einfach, das Leben hier draußen an der Front. Es verlangt gerade von uns, die wir manchem nicht zustimmen können und wollen, was andere widerspruchslos hinnehmen, mehr als nur den täglichen Einsatz des Lebens. Aber wenn wir das alles auf uns nehmen, wenn das, was wir hier tun, überhaupt einen Sinn haben soll, dann müssen wir uns darauf verlassen können: Ihr in der Heimat bewahrt das, was wir euch einst übergaben. Wenn wir hier draußen trotz allem noch auf unserm Platz stehen — dann nur Euretwegen.
Am nächsten Vormittag sah Wolf in der großen Pause auf dem Schulhof den Jungen wieder, der neulich im Keller fortgegangen war. Wolf fragte schnell einen aus dessen Klasse:
«Du, der da vorn, aus eurer Klasse, wie heißt der eigentlich?«
»Der? Das ist der Hepp Siegel, du weißt doch...«
»Ja, ich weiß. Danke schön.«
Wolf wartete dann im Treppenaufgang der Schule auf Hepp.
»Tag, Hepp, ich bin Wolf Gecken, vielleicht
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