Fahrt zur Hölle
Geräusche auf dem Innenhof. Ein Auto war eingetroffen. Sofort drängten sich die Männer um das kleine Loch in der Wand. Als Erste erreichten die Matrosen den Ausguck, wichen aber zurück, als Kalynytschenko auftauchte und mit donnernder Stimme den Platz für sich beanspruchte.
»Der Boss ist eingetroffen«, kommentierte der Erste Offizier. »Mit einem Mercedes.« Er sah sich um und suchte Lüder. »Wenn irgendwo auf der Welt etwas Negatives passiert, ist etwas Deutsches nicht weit.«
»Wer ist der Boss?«, fragte Lüder, ohne auf die Stichelei einzugehen.
»Sie stehen im Hof und unterhalten sich. Zwei weitere Kerle sind mit dem Boss gekommen.«
»Kennen wir den Boss?«, wiederholte Lüder seine Frage.
Kalynytschenko antwortete nicht. Durch die schwere Bohlentür und das Loch war Stimmengemurmel zu hören, ohne dass Lüder die Anzahl der Leute einschätzen konnte.
»Ich möchte auch einen Blick darauf werfen«, sagte er und trat an die Maueröffnung heran.
Kalynytschenko tat, als hätte er es nicht gehört.
»Machen Sie Platz«, forderte Lüder den Mann auf.
»Halt das Maul.«
Wenn Lüder weiter die Demütigungen des Ersten Offiziers duldete, würde er jeden Respekt unter den Geiseln verlieren. Außerdem musste er wissen, was dort draußen vor sich ging. Er stellte sich neben Kalynytschenko, zog die Schultern ein wenig zur Seite und ließ sie dann mit ganzem Körpereinsatz gegen den Ukrainer schnellen, sodass der zur Seite geschleudert wurde und sich nur mit Mühe auffangen konnte.
»Ich sagte, ich werde mir das ansehen«, erklärte Lüder betont.
Вы чертовски немецких собака «
Lüder sah auf den Offizier, der wutschnaubend zwei Schritte von ihm entfernt stand.
»Was heißt das?«, fragte Lüder. »War das eine Liebeserklärung? Fehlanzeige. Ich bin nicht schwul.«
»Das hieß: ›du verdammter deutscher Hund‹«, übersetzte der Kapitän aus dem Hintergrund.
Kalynytschenko holte tief Luft. Lüder beobachtete ihn aus den Augenwinkeln. Gleich würde der Angriff erfolgen. Mit einem Satz sprang der Erste Offizier vor und versuchte, Lüder zu greifen. Der hatte den Angriff erwartet, stieß sich von der Wand ab, streckte das rechte Bein vor und ließ den vor Wut blinden Ukrainer darüber stolpern. Als Kalynytschenko an ihm vorbeischoss, gab ihm Lüder noch einen Stoß mit, dass der Mann mit der rechten Körperseite gegen die Mauer prallte und daran entlangschrammte. Das war sicher schmerzhaft.
Es schien, als würden alle im Verlies die Luft anhalten. Lüder bangte, dass Teile der Schiffsbesatzung über ihn herfallen könnten. Er wäre den Männern hilflos ausgeliefert. Tatsächlich machten zwei philippinische Matrosen einen Schritt auf ihn zu. Zu Lüders Überraschung wurden sie durch einen Zwischenruf des Kapitäns zurückgepfiffen.
»Stopp«, kommandierte Syrjanow, der sich bisher immer zurückgehalten hatte.
Kalynytschenko hatte sich wieder aufgerafft. Er startete den nächsten Angriff auf Lüder, unkontrolliert und voll blinden Zorns.
Lüder fiel es nicht schwer, die Attacke mit einem Soto maki komi zu parieren, indem er Kalynytschenko blitzschnell mit der linken Hand am Ärmel zog, ihn dadurch zu einem großen Schritt zwang und zu sich heranzog. Dann drehte sich Lüder weiter und riss Kalynytschenko durch den Schwung zu Boden. Bevor der Erste Offizier reagieren konnte, klammerte ihn Lüder mit einem Haltegriff am Boden fest.
»Der verdammte Deutsche kann Judo«, sagte er lässig und verstärkte den Haltegriff bis zur Grenze der Schmerzhaftigkeit. »Und ich kann noch mehr. Arme brechen, zur Not auch das Genick. Davon mache ich aber ungern Gebrauch. Ist das klar?«
Der Ukrainer schimpfte in seiner Muttersprache. Lüder verschärfte noch einmal den Druck, bis der Mann aufschrie. Dann ließ er ihn frei und klopfte sich demonstrativ die Hände sauber.
»Möchte noch jemand mit mir diskutieren?«
Niemand rührte sich.
Lüder wusste nicht, wie Kalynytschenko auf die Niederlage reagieren würde. Er musste jetzt darauf vertrauen, dass der Erste Offizier aufgab. Dadurch, dass Lüder ihm den Rücken zuwandte, bekundete er, dass er sich vor dem Mann nicht fürchtete. Er hatte Glück. Kalynytschenko fluchte unentwegt in seiner Muttersprache und sprach vermutlich alle möglichen Verwünschungen aus. Aber Lüder hatte diese Machtdemonstration für sich entschieden und gezeigt, dass man ihn nicht tyrannisieren durfte und, was ihm noch wichtiger war, dass von nun an sein Wort
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