Fahrt zur Hölle
Gewicht haben würde.
Dann konzentrierte er sich auf das Geschehen auf dem Hof. Dort stand ein über und über mit Dreck bespritzter Mercedes der G-Klasse. Trotz der Schmutzschicht wirkte das Fahrzeug noch neu. Der Geländewagen sah wuchtig aus. Im Unterschied zur Hamburger Mönckebergstraße oder Düsseldorfer Königsallee, wo man häufig diese Marke zu sehen bekam, passte es mit seinem Reserverad auf der hinteren Tür hier in diese Umgebung.
Ein Stück entfernt standen drei Männer. Einen erkannte Lüder wieder.
»Ist Youssef Galaydh der Boss, von dem Wadym sprach?«, fragte Lüder in den Raum hinein. Er benutzte mit Bedacht den Vornamen des Ersten Offiziers.
»Wir kennen keinen Youssef Galaydh«, antwortete Kapitän Syrjanow.
»Lass mal sehen«, mischte sich Hein Piepstengel ein und trat zu Lüder an das Loch in der Wand. Niemand hinderte ihn daran. Der Maschinist warf nur einen kurzen Blick in den Hof. »Der mit dem Nachthemd«, umschrieb er die Galabija, die Galaydh auch heute trug.
»Das ist der Boss?«, fragte Lüder erstaunt. Der Mann, der in Kiel studiert hatte? Lüder versuchte, Wortfetzen aufzuschnappen.
Er glaubte, mehrfach etwas, das wie »Abu Talha« klang, zu verstehen. Auch wenn er die Sprache nicht kannte, wollte er versuchen, aus dem Sprechrhythmus der Beteiligten einen Eindruck von deren Seelenzustand zu gewinnen. Jedenfalls schienen die Männer unterschiedlicher Auffassung zu sein. Schließlich brachen sie ihren Disput ab und zogen sich in die andere Hütte zurück. Lediglich der Junge mit der Maschinenpistole hockte in stoischem Gleichmut im Schatten der Hauswand und liebkoste seine Waffe.
Lüder zog sich vom Fenster zurück. Dann hieß es wieder warten. Warten. Warten.
»Was passiert als Nächstes?«, fragte er schließlich Hein Piepstengel.
»Tjä. Wenn nichts Besonderes geschieht – nichts. Morgen gibt es wieder Essen. Das ist alles.«
Wie lange würde es dauern, bis die erste Geisel die Nerven verlor?, überlegte Lüder. Und wenn sich andere anstecken ließen … Er mochte diesen Gedanken nicht fortsetzen.
Nach einer ganzen Weile meldete sich noch einmal der Maschinist. »Ich habe noch ein tägliches Highlight vergessen: Das Entleeren des Toiletteneimers.« Er drehte sich um und fragte in den Raum: »Wer darf heute den Eimer entleeren?«, und wechselte dabei ins Englische.
Niemand meldete sich. Lüder bemerkte, dass ihn zahlreiche Augenpaare ansahen.
»Ich«, erklärte Lüder. Es drängte ihn nicht nach dieser Aufgabe, aber er würde so eine Möglichkeit haben, sich auf dem Gelände umzusehen. Niemand widersprach ihm.
Lüder vermochte nicht zu sagen, wie lang er an die Wand gelehnt vor sich hingedöst hatte, als einer der Matrosen aufgeregt rief: »Da kommt jemand.«
Niemand machte den Philippinern den Platz am Fensterloch streitig. Kurz darauf wurde das Schloss betätigt und der Holzbalken zur Seite geschoben. Mit dem Licht drang ein Schwall heißer Luft herein. Trotzdem empfand Lüder es als Wohltat.
»Wolfram. Komm«, sagte einer der Somalier und wiederholte die Wörter laut, da Lüder nicht so schnell reagiert hatte.
Lüder stand auf und wankte leicht Richtung Türöffnung. Das Kauern auf dem Boden hatte seine Gelenke steif werden lassen. Er brauchte einen Moment, bis er sich an das grelle Licht gewöhnt hatte. Der Mann mit dem Gewehr in der Hand dirigierte ihn zur anderen Hütte und bedeutete ihm, dort zu warten.
Kurze Zeit später erschien Youssef Galaydh.
»Ah, Herr Wolfram.« Es klang fast jovial. »Ich möchte mit Ihnen einen kleinen Spaziergang machen.«
Galaydh, der sichtbar keine Waffe trug, wandte sich zum Tor. Sie wurden von einem älteren Mann mit einem sehr lückenhaften Gebiss und zerfurchtem Gesicht und dem Jungen begleitet. Der Junge hielt immer noch die Maschinenpistole fest in den Händen, während der Alte sein Gewehr über die Schulter gehängt hatte. Er trug eine Sirwal, eine weite Pluderhose. Die beiden Bewacher folgten Lüder und Galaydh, der über die staubigen Straßen ging, die aus Sand bestanden, und Lüder den Weg zwischen den weißen Häusern mit den grünen Dächern hindurch wies.
Nur wenige Bewohner begegneten ihnen.
»Wohnen hier nur Männer?«, fragte Lüder, da er nirgendwo eine Frau entdecken konnte.
»Sie wollen über uns urteilen, ohne die Kultur zu kennen.« Es klang wie ein Vorwurf. »Frauen sollen ihre Reize bis auf Augen und Hände bedecken.«
»Sind Frauen nicht auch Gottes Geschöpfe mit den gleichen Rechten wie
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