Fahrt zur Hölle
ist. Niemand kann beurteilen, welche Bodenschätze die Ozeane bergen. In meinem Studienfach wird das Verständnis für das natürliche Ökosystem der Meere gelehrt, für die Zusammenhänge der Veränderungen der Lebensgemeinschaften und auch die Folgen des fortschreitenden Missbrauchs durch die Menschen.«
»Das ist eine anspruchsvolle Aufgabe, die mit Sicherheit für unser aller Zukunft von Bedeutung ist«, sagte Lüder. »Ich kann mir vorstellen, dass die Arbeitsbedingungen in Ihrem Land für dieses Forschungsgebiet nicht günstig sind.«
»Derzeit ist es schwierig«, gab der Somalier zu.
»Und deshalb haben Sie sich auf die Piraterie verlegt. Das ist auch viel einträglicher als ein Staatsjob. Ihre Bezirksregierung in Garoowe kann Ihnen kein Gehalt zahlen, von dem Sie sich einen großen Geländewagen leisten können.«
»Sparen Sie sich Ihren Zynismus. Die Straßen sind hier wenig ausgebaut. Für die Mobilität benötigen Sie deshalb ein entsprechendes Fahrzeug. Hafun erreichen Sie nur über eine schmale Landbrücke.«
»Deshalb fahren alle Mitbürger in Puntland große Geländewagen. Das freut die deutsche Automobilindustrie.«
»Schweigen Sie«, forderte Galaydh Lüder auf. »Sie verstehen nichts.«
»Doch. Ich muss mich nur umsehen. Ihr Büro in Hordio, das ich gestern kennenlernen durfte, war auch luxuriös ausgestattet. Ich kenne die Höhe der Lösegelder. Wohin lassen Sie sich Ihre Millionen überweisen? Zürich? London? Oder Kiel?« Lüder ging zwei Schritte weiter. Dann drehte er sich um und legte die Fingerspitzen gegen die Wange, als wäre ihm noch etwas eingefallen. »Mit wie viel Prozent ist Ihr Kumpel Peltini, der eigentlich für die Sicherheit in Puntland verantwortlich ist, daran beteiligt? Mir hält er in Garoowe ein leidenschaftliches Plädoyer gegen das Piratenunwesen. Und hinter dem Rücken kassiert er fleißig. Innenminister Shiikh deckt das Ganze. Alles ist eine große Geldmaschine. Schnell reich werden, bevor die nächsten Revolutionäre übers Land ziehen. Und sich dann in einen ruhigen Winkel der Erde zurückziehen. Hat man diese Masche nicht bei vielen Potentaten des schwarzen Kontinents erlebt? Das Volk hungert und darbt, und die korrupte Spitze tut sich daran gütlich.«
»Sie verstehen nichts. Nichts!« Galaydh scharrte wütend mit dem Fuß im Sand. Plötzlich streckte er den Arm aus. »Los«, sagte er. »Laufen Sie ins Wasser.«
»Bitte?«, fragte Lüder erstaunt.
»Gehen Sie ins Wasser und erfrischen Sie sich. Eine heiße Dusche kann ich Ihnen nicht anbieten. Behalten Sie aber Ihre Kleidung an. Alles andere wäre unsittlich, und die Leute würden es nicht verstehen. Und nicht tolerieren«, schob er hinterher.
Lüder zögerte einen Moment. Dann ging er langsam Richtung Wasser.
»Wussten Sie, dass der Salzgehalt des Indischen Ozeans etwa dem der Nordsee entspricht?«, rief ihm Galaydh hinterher. »Sie sollten es daher vermeiden, das Wasser zu trinken.«
Lüder zog seine Schuhe und die Strümpfe aus. Zunächst wollte er sie am Strand liegen lassen. Nach den Erfahrungen mit dem Raubüberfall in Garoowe behielt er sie aber in der Hand. Vorsichtig streckte er den linken Fuß ins Wasser. Es war ein unbeschreibliches Gefühl, mit dem kühlen Nass in Berührung zu kommen. Er schob den anderen Fuß hinterher. Wer so lange dem Schmutz und Staub, der Hitze und der Dürre ausgesetzt war wie er, empfand das Wasser als Erlösung. Lüder setzte einen Fuß vor den anderen, immer schneller.
Nach wenigen Schritten erreichte das Wasser seine Hüfte. Er lief noch drei Meter weiter hinein, bis die Wellen um seine Brust spielten. Dann holte er tief Luft, tauchte in den Ozean ein und ließ die Wellen über sich hinwegplätschern. Er wiederholte es mehrfach und spürte, wie manches von ihm abgespült wurde. Noch nie hatte er Wasser als so lebenspendend empfunden. Es fiel ihm schwer, das Wasser wieder zu verlassen und zum Strand zurückzuwaten, wo ihn Galaydh mit einem Grinsen erwartete.
»Sehen Sie«, erklärte der Somalier. »So wichtig ist der Ozean für uns. Lebenswichtig. Und diese Grundlage haben uns die reichen Staaten entzogen, indem sie mit ihren Fangflotten unsere Küstengewässer leer gefischt haben. Nun entscheiden Sie selbst, was Gerechtigkeit ist.«
Mit der mir gegenüber erwiesenen Wohltat versucht der Somalier, mich zu beeinflussen, dachte Lüder. Man muss eine Geisel nur lange genug demütigen und drangsalieren, bis sie sich irgendwann mit dem Geiselnehmer solidarisch zeigt.
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