Fahrt zur Hölle
Dieses Phänomen war schon oft beobachtet worden. Lüder wollte sich davon nicht beeindrucken lassen.
Da saßen irgendwo in Berlin Gutmenschen, beklagten das Schicksal der armen Piraten und hatten keine Vorstellungen, dass auch die Geiseln und ihre Angehörigen unendlichen Qualen ausgesetzt waren. Wie oft vergaß man bei der Sorge um die Täter das Wohl der Opfer?
Nein! Für Lüder waren die Piraten und ihre Hintermänner Verbrecher der übelsten Sorte. Allein das Elend, das die Besatzung in dem Drecksloch von Gefängnis erdulden musste, war unbeschreiblich.
»Wir müssen zurück«, mahnte Galaydh und ging langsam den Strand hinauf Richtung Ort.
»Müssen Sie so unmenschlich sein?«, fragte Lüder unterwegs. »Die Menschen, die Sie als Geiseln halten, sind unschuldig. Warum gehen Sie nicht humaner mit ihnen um? Gewähren Sie ihnen täglich Ausgang auf dem Hof, lassen Sie sie sich waschen. Irgendwann ist auch eine medizinische Versorgung nötig.«
»Was meinen Sie, wo Sie hier sind?«, winkte Galaydh ab und schwieg, bis sie wieder das Gefängnis erreicht hatten. Ohne ein weiteres Wort zu Lüder gesprochen zu haben, überwachte er, wie Lüder wieder weggesperrt wurde.
Erneut begann das Warten, das aber schon bald unterbrochen wurde. Gespannt sahen alle Geiseln zur Tür, als die geöffnet wurde und einer der Piraten erschien und vier der Gefangenen aussortierte, darunter den Kapitän.
»Ich will nicht«, schrie Bayani, einer der philippinischen Matrosen, und kauerte sich in eine Ecke.
Der Somalier im Kaftan zeigte auf Datu, einen anderen Decksmann, und befahl: »Du. Mitkommen.«
Mit gesenktem Kopf folgte der Aufgerufene, und die kleine Prozession verließ das Gefängnis.
»Sie werden hinter die andere Hütte geführt«, gab ein weiterer Matrose seine Beobachtungen am kleinen Loch in den Raum weiter. Unruhe machte sich unter den Männern breit.
»Ruhe!«, befahl Lüder. Er wollte hören, was mit den Männern geschah. Ob man sie foltern wollte?
Nichts war zu hören, bis schließlich Gelächter erklang.
»Diese Teufel«, fluchte Hein Piepstengel.
»Ist so etwas schon öfter vorgekommen?«, fragte Lüder.
»Am ersten Tag haben sie den Kapitän und die beiden Offiziere zum Verhör herausgeholt.«
»Was wollten die von Ihnen wissen?«, wandte sich Lüder an Kalynytschenko. Doch der Erste Offizier verweigerte die Aussage. Stattdessen meldete sich der schweigsame Zweite Offizier Wang Li zu Wort.
»Die wollten alles über das Schiff wissen. Woher wir kommen, wohin wir fahren, von welcher Reederei. Sie waren zufrieden, als sie hörten, wir wären ein deutsches Schiff.«
»Warum?«
»Das weiß ich nicht. Vermutlich hat es sich herumgesprochen, dass die Deutschen keine Gewalt anwenden und lieber stillschweigend zahlen. Das ist bei anderen nicht so.«
Lüder ließ unerwähnt, was ihm Galaydh von der vergeblichen Kaperung des chinesischen Schiffs in der vergangenen Nacht berichtet hatte. Es hätte nur zu Unruhe unter den Männern geführt.
»Man hat uns zunächst nicht geglaubt, dass wir ein deutsches Schiff sind.« Das Auflachen des Chinesen klang verbittert. »Die Flagge am Heck stammt aus Antigua und Barbuda. Schwarz-Rot-Gold sind den Barbaren als deutsche Farben geläufig, aber nicht die aufgehende Sonne zwischen den roten Dreiecken des Karibikstaates.«
»Das ist überall auf der Welt so«, mischte sich Piepstengel ein. »Weißt du auch, warum?«
Lüder verneinte.
»Ich hab mich auch gewundert. Selbst die, die nicht schreiben oder lesen können, kennen die deutsche Flagge. Vom Fußball!«
Lüder musste lachen. Trotz Goethe-Instituten weltweit waren Franz Beckenbauer und Jogis Jungs die weitaus effizienteren Botschafter Deutschlands.
»Mich haben die Piraten gefragt, wo Saint John’s in Deutschland liegen würde. Erst als ihr Boss auftauchte …«
»Galaydh«, warf Lüder ein.
»Genau. Erst ihm schenkten sie Glauben. Hinzu kam, dass sie nicht verstehen wollten, wie sich die Besatzung zusammensetzt. Sie verlangten unsere Pässe.«
»Die konnte keiner lesen«, schaltete sich Piepstengel ein weiteres Mal ein. »Ich wollte denen mein Rabattheft von ALDI geben.«
»So etwas gibt es doch nicht«, sagte Lüder lachend.
»Na gut. Dann eben meine Urkunde über das Seepferdchen.«
»Wurde jemand gefoltert?«, fragte Lüder.
»Die ganze Geiselnahme ist eine einzige Folter«, mischte sich Kalynytschenko ein.
Von draußen klang immer noch das heitere Lachen herein.
»Diese Schweine«, schimpfte der Erste
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