Fahrt zur Hölle
Situation weiter zuspitzte, es möglicherweise beim Vordringen der Söldner Opfer im Ort gegeben hatte, waren sie an diesem Ort in doppelter Gefahr, falls die Einheimischen das Lager angreifen sollten.
»Galaydh«, schlug Lüder vor, »lassen Sie uns aufbrechen und Hafun verlassen. Es wird für uns alle zu gefährlich. Sie, Ihre Leute und wir …«
»Und wie soll das gehen? Soll ich alle im Mercedes stapeln?«
»Beordern Sie ein Boot heran an die Stelle, an der ich ausgestiegen bin. Sie könnten uns dann über die Lagune nach Hordio bringen.«
»Das geht nicht.«
»Doch!«
»Und wenn Sie uns überwältigen? Ihre Leute können mit einem Boot umgehen.«
»Ich gebe Ihnen mein Ehrenwort.«
Galaydh lachte höhnisch. »Ehrenwort! Was gilt das in dieser Welt. Nein!« Es klang endgültig.
»Was ist mit unserem Opfer?«
»Zunächst müssen wir Seyam beerdigen. Gleich morgen früh, damit er Zugang zum Paradies findet.«
»Der ist nicht ganz dicht«, hörte Lüder Piepstengel wispern. »Was soll ein Vierzehnjähriger mit den ganzen Jungfrauen im Paradies? Wenn man dem eine elektrische Eisenbahn statt der MP i geschenkt hätte, wäre er bestimmt glücklicher geworden.«
»Auch Bayani war ein Mensch. Er hat es sich nicht ausgesucht, hier zu sterben. Er hinterlässt eine Frau und sechs Kinder«, übertrieb Lüder.
»Der interessiert mich nicht.«
»Hat Bayani nicht auch ein würdevolles Begräbnis verdient? Auch er hat einen Gott.«
»Er war ein Ungläubiger. Morgen, nachdem Seyam beerdigt ist, können Sie Ihren Mann hinter der Mauer verscharren.«
»Wir verscharren unsere Toten nicht«, erklärte Lüder. »Menschlichkeit und Anstand reichen über das Lebensende hinaus.«
»Es ist so, wie ich es gesagt habe.«
Galaydh wandte sich zum Gehen.
»Wer ist Abu Talha?«, rief ihm Lüder hinterher.
Der Somalier verharrte mitten im Schritt. Für den Bruchteil einer Sekunde hielt er sein Bein in der Schwebe über dem Erdboden, bevor er es absetzte und sich umdrehte.
»Das wissen Sie nicht?« Es klang erstaunt.
»Sonst hätte ich nicht gefragt.«
»Abu Talha – das heißt: ›der Deutsche‹.«
»Und wer ist …« Lüder brach mitten in der Frage ab. Für den Somalier draußen im Hof unhörbar beendete er fast tonlos seine Frage. »… ›der Deutsche‹?«
Wie oft war in der Diskussion der Piraten der Begriff gefallen. Sie hatten oft über »den Deutschen« gesprochen. Es gab verschiedene Antworten. Galaydh wurde als Anführer der Piraten akzeptiert. Sein Wort galt. Er hatte in Deutschland studiert. War er »der Deutsche«? Oder meinten die Piraten damit Lüder? Es konnte den Somaliern nicht entgangen sein, dass er eine Führungsrolle unter den Geiseln einnahm.
Es gab aber noch zwei andere Landsleute unter ihnen. Hein Piepstengel. Nein!, überlegte Lüder. Den hatten die Geiselnehmer nicht auf der Rechnung. Was war mit Hans-Günter Schöster, der still und unauffällig, aber keineswegs apathisch in der Ecke hockte und nie einen Ton von sich gab? Immer noch war ungeklärt, ob er in Verbindung mit der Ladung stand, die die ›Holstenexpress‹ in Madras an Bord genommen hatte. Es war wie verhext.
Noch nie hatte Lüder unter solchen Bedingungen Ermittlungsarbeiten leisten müssen. Galaydh war eine wichtige Figur in diesem Netzwerk von undurchsichtigen Verstrickungen, aber nicht der Mann an der Spitze, nicht der Kopf hinter den Verbrechen. Der Somalier war klug, aber ihm fehlten die Verbindungen und Möglichkeiten, eine solche Tat zu planen und zu organisieren. Ging es wirklich um Lösegeld für das Schiff?
Das Schiff. Die Geiselnahme der Besatzung erschien Lüder nur als notwendige Begleiterscheinung – Kollateralschaden würde man es zynisch umschreiben.
Ruhe war nun eingekehrt in ihrem Verlies. Eine unheimliche Ruhe. Nur das unentwegte Surren der lästigen Insekten war zu hören.
»Haben wir etwas, womit wir Bayani zudecken können?«, fragte Lüder.
Niemand antwortete.
Lüder machte sich daran, dem Matrosen die Jacke auszuziehen. Er wollte etwas über Kopf und Gesicht des Unglücklichen legen, um die fliegenden Plagegeister davon abzuhalten. Während Lüder sich abmühte, rückte Piepstengel heran.
»Ich helfe dir«, sagte der Maschinist und begann, mit erkennbar spitzen Fingern Lüder zu unterstützen. Nachdem das geschafft war, kroch Lüder zu Schöster.
»Es wird Zeit, dass wir ein ernsthaftes Wort miteinander wechseln«, sagte er, während der Zahlmeister ein paar Zentimeter zur Seite
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