Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
und sich gemerkt. Kerklich lachte eingeschüchtert auf und nickte; er hatte offensichtlich keine Ahnung, was das bedeuten sollte. Gröberding sah, dass an Kerklichs Mundwinkeln Spuckereste eingetrocknet waren; einzelne Haare, die aus seinen Augenbrauen wuchsen, schlugen verschiedene Richtungen ein. Der Professor ging ihm auf die Nerven, aber gleichzeitig fühlte er sich geschmeichelt. Sie beschlossen, eine Ausstellung zu machen. Kerklich sollte die Eröffnungsrede halten und einen kurzen Katalogbeitrag schreiben; er verlangte von Gröberding tausend Mark für seine Bemühungen.
In der, wie die zahlreichen Tippfehler vermuten ließen, hektisch hingeschriebenen Auslegung von Gröberdings Gemälden, die Kerklich wenige Tage später ablieferte, war von einem Kampf mit der Seinsgeworfenheit, einem Bild des Werdens und Vergehens, vom Wesen des Menschen und der Seinshaftigkeit der Kunst zu lesen, einem archaischen Erfahrungskern des Menschen an sich, der sich in den Bildern kristallisiere.
Gröberding, in dem in diesem Moment der Rechnungschef dasKommando über den Künstler übernahm, überlegte, ob er für diesen Stuss wirklich tausend Mark zahlen müsse, überlegte dann, dass er für das Geld eine Woche mit seiner Frau Urlaub machen könnte und schrieb Kerklich eine kurze Notiz, dass er kein Wort verstehe und das, was dort zu lesen sei, nichts mit seinen Bildern zu tun habe.
Kerklich meldete sich eine Woche nicht. Dann fand Gröberding in seinem Briefkasten einen handgeschriebenen Brief auf dickem Büttenpapier, in das die Initialen H K eingelassen waren: Die Werke, schrieb Kerklich, seien tatsächlich komplexer, als er angenommen habe, deutlich komplexer sogar, er brauche daher noch zeitlichen Aufschub, und auch, wegen des erhöhten Arbeitsaufwandes, mehr Geld für seinen Essay.
Ende des Monats lieferte Kerklich eine zweite Fassung. Diesmal war von einem Ringen mit der Geworfenheit ins Sein, einem Bild des vergänglichen Moments und der Wesenhaftigkeit der Kunst sowie einem Urkern unserer Erfahrung, der aus den Tiefen eines archaischen, verlorenen Seins zu uns dringe, die Rede.
Gröberding legte den Text beiseite, nahm sich einen Sherry von der Anrichte und schaute aus dem Fenster, das immer noch von einer Plane verhüllt war. Das Licht dahinter wurde schon schwächer, es war später Nachmittag. Die Bauarbeiter zogen zwischen dem Fenster und der Plane ein gelbes Rohr an der Fassade entlang bis aufs Dach, sie schrien sich Befehle und Fragen zu und hämmerten und sägten. Die Betonarbeiten sollten längst begonnen haben, sie waren zu spät dran.
Gröberding ging früh zu Bett und stand am nächsten Tag früh auf. Er machte sich einen Kaffee und setzte sich mit Kerklichs Manuskript auf den Balkon, vielleicht, dachte er, verstehe ich morgens besser, was der Mann sagen will. Auf dem Dach hatten die Bauarbeiter eine lärmende Maschine angeworfen, es klang, als würde ein Mofa auf dem Dach im Kreis fahren, jemand brüllte etwas vom Dach auf die Straße hinunter, und jemand anderes brüllte von der Straße etwas aufs Dach hinauf. Irgendwo gab es einen Knall. Gröberding machte ein paar Skizzen von Kerklichs halslosem Profil auf das Manuskript, erkolorierte das Einstecktuch und die Krawatte mit einem Tropfen Kaffee, den er mit dem kleinen Finger verrieb, dann las er die Passage über die Wesenhaftigkeit der Kunst noch mal, und während er vom Urkern unserer Erfahrung las, hörte er ein Blubbern, das mit der Zeit immer stärker wurde. Gröberding lauschte. Auf dem Dach ackerte sich ein Motor ab, es klang, als ob ein vollbesetztes, untermotorisiertes Auto einen steilen Hang im ersten Gang hinauffährt, aber das Blubbern kam nicht von draußen. Gröberding lief durch den langen Korridor, vorbei an den Kratzporträts seiner Frau, die hinter der Wand schlief, bis in den Atelierraum. Ein paar Bilder waren hier umgekippt, und aus einem Loch in der Wand quoll, blasenwerfend, eine graue Masse, ganz offensichtlich Beton. Gröberding schrie, watete durch den frischen Beton, verteilte ihn auf dem Parkett, versuchte, ein paar Gemälde, die schon zur Hälfte überschwemmt waren, in Sicherheit zu bringen, aber aus dem Loch in der Wand, wo man die Kaminöffnung ganz offensichtlich nicht vermauert, sondern nur mit einer dünnen Spanplatte geschlossen und dann übertapeziert hatte, quoll unaufhaltsam der Beton, den die Arbeiter vom Dach aus in die alten Kaminschächte pumpten. Seine Frau war aufgewacht und schaufelte mit einem
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