Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
Verdeckkastens.
Als sie aus Italien zurückkamen, standen mehrere Umzugswagen vor der Tür. Möbelpacker trugen Gipsbüsten und dunkle Mahagonimöbel ins Haus; im ersten Stock zog Professor Kerklich ein, ein hagerer Mann ohne Kinn, der immer, auch, wie Gröberding aus seinem Erker beobachten konnte, spätabends in der Küche, einen Anzug mit Krawatte und farblich passendem Einstecktuch trug. (Es sah aus, sagt Gröberding, als ob ihm die Krawatte auf eine kunstvolle Weise oben aus dem Sakko wieder herauswuchere.)
In der gleichen Woche bekamen sie die Mitteilung, die Hauseigentümergemeinschaft habe sich, um die anstehende Fassadensanierung zu finanzieren, entschlossen, dem Bau eines Penthouses auf dem Dach des Altbaus zuzustimmen.
Ein paar Tage später klingelte es am Morgen zweimal an Gröberdings Tür. Der Architekt des Penthouses, ein Herr Ärmler aus Dormagen, stellte sich vor; seinen Berechnungen zufolge – er holte bei diesen Worten eine Kopie aus seinem Koffer, die er Gröberding vorlegte – müsse man zur Stabilisierung des Penthouses die ehemaligen, heute aus feuerpolizeilichen Gründen zugemauerten Kaminschächte mit Beton ausgießen, um so die Last im vorderen Bauteil abzuleiten, da es anderenfalls, so sagte er es, statisch schnell ein bisschen knirschen könnte. Er wolle daher die Vermauerung der Kaminöffnungen überprüfen. Gröberding deutete auf die Wand, an der sich früher der Kamin befunden hatte; dort, wo die Kaminöffnung gewesen sein musste,balancierten zwei Humphrey Bogarts auf einer Phalanx von strudelnden Farbverläufen. Herr Ärmler versuchte, ein Bild abzurücken, aber es verkeilte sich, und die Farbe blätterte ab. Er stellte es verschreckt an seinen Platz zurück und klopfte schräg gegen die Kaminwand; hier, sagte er dann zufrieden, sei alles ordnungsgemäß abgedichtet.
Der zweite Besucher war Professor Kerklich. Es stellte sich heraus, dass er einen Kunsthandel besaß und bereits mehrere Katalogbeiträge für Ausstellungen geschrieben hatte; er wanderte durch den Flur, schüttelte ungläubig den Kopf, ergriff dann feierlich Gröberdings Hände, nannte ihn einen Künstler, eine Entdeckung und empfahl ihm, eine Ausstellung bei einem befreundeten Galeristen zu machen, ein Experte für Informel, fügte Kerklich hinzu, eine der Kapazitäten seines Fachs, eine Ausstellung bei ihm könne den Durchbruch bringen, er, Kerklich könnte sich unter Umständen sogar vorstellen, den Katalogtext zu verfassen.
Ein paar Wochen später, während die Fenster des Hauses hinter einem Baugerüst verschwanden und die Bauarbeiter begannen, mit schwerem Gerät das Dach des Hauses abzutragen, betrat Kerklich, wie immer im Anzug, mit roséfarbener Krawatte und passendem Einstecktuch, Gröberdings Wohnung zusammen mit dem Galeristen. Sie zerrten Bilder hervor, drehten sie in der Luft herum, hielten sie mit ausgestreckten Armen von sich und machten bedeutungsvolle Gesichter.
»Die Bilder brauchen Titel«, sagte Kerklich nachdenklich und hielt einen graubraunen Farbverlauf einhändig an die Wand.
»Wie heißt dieses Bild?«
Der Galerist striegelte seinen Bart mit der rechten Hand und kniff die Augen zusammen.
»Im Fluss«, sagte er dann.
»Es hat etwas Tiefes, Existentielles«, sagte Kerklich. »Etwas Archaisches. Es könnte auch ›Schwarz‹ heißen. ›Aufruhr‹ – nein« – er hob die Hand in die Luft, wie ein Dirigent, der äußerste Konzentration verlangt – »es heißt ›Bohrung‹«.
Gröberding schaute den Professor an. Er roch nach einem seltsamen Parfüm, ein Damenparfüm vielleicht, mit einer Liliennote.
»Warum denn ›Bohrung‹?«, fragte er. »Bei einer Bohrung sieht es ganz anders aus.«
»Wie würden Sie selbst es nennen?«, sagte der Galerist verständnisvoll.
Gröberding starrte ihn an. Er hatte hunderte von Bildern gemalt, und er hatte sich nie gefragt, wie man sie nennen könnte. Es waren Bilder, die nichts darstellten, warum in aller Welt brauchten sie jetzt Namen? Um etwas zu sagen, sagte er: »Pechelbronn«.
In Pechelbronn hatten sie um 1500 die erste Erdpechquelle gefunden, sie hatten das Öl als Medizin eingesetzt, bei Hautkrankheiten, das Öl hatte die gleiche Farbe wie das Gemälde, Pechelbronn …
»Neinnein«, sagte Kerklich. »Bewegung, das Ephemere, Omnia Fluxit – so etwas«.
»Pulchra sunt ubera quae paululum supereminent et tument modice«, sagte Gröberding. Er hatte den Satz in dem Roman von Eco, den seine Frau in Italien gelesen hatte, gefunden
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