Fahrtenbuch - Roman Eines Autos
auch an jenen Momenten bitterer Wahrheit, die mit den Reden der sogenannten Freunde beginnen.
Als nächstes sang eine von Hennings Exfreundinnen, die man nach längerem Zögern ebenfalls eingeladen hatte, einen Countrysong. Sie traf einen Ton von vieren. Dabei schlug sie mit dem Fuß einen Takt, der in anderen Gegenden der Welt als Vorbote eines Erdbebens gegolten hätte. Sie sprang über Oktaven wie ein alkoholisiertes Känguruüber Zäune. Sie verzog das Gesicht, warf die Arme gen Himmel – und in der Mitte des Liedes, nach einem schmerzhaften Sturz von Dur nach Moll, begann sie zu weinen. Einem Onkel ging die Zigarre aus; er versuchte verzweifelt, sie wieder anzuzünden.
»Das arme Mädchen«, murmelte eine Tante aus Putlitz ergriffen. Am Nebentisch begann die Großmutter laut zu werden. Sie hatte sich eine Flasche Chablis gesichert und mit solider Zielstrebigkeit bis zur Hälfte leer getrunken. Nun formte sie aus den Resten des über den Teller verteilten Baguettes kleine Brotkügelchen. »Mama, bitte jetzt nicht mehr trinken«, zischte Heidemarie Berkenkamp und nahm ihr das Glas weg. Die Exfreundin trat unter höflichem Applaus ab und fiel Henning eine Spur zu stürmisch um den Hals. Ein dicker Alter erzählte, er habe sich einen Humidor gekauft, und der Zigarrenonkel nickte zustimmend und sagte, das sei von Vorteil für den Geschmack. Am Büfett packte Hennings Schwester irgendeinen jungen Anwalt, den sie nicht kannte, am Arm, zog ihn aus dem Saal und küsste ihn auf der Marmortreppe, die zum Fitnessraum führte.
Die Kapelle begann, einen Tango zu spielen, und John Berkenkamp trat durch die halbgeöffnete Tür in die kühle Nachtluft hinaus. Der weiße Mercedes SL parkte mit eingeschlagenen Rädern auf dem Rasen. Berkenkamp ging über den Kiesweg zum Wagen, öffnete die Tür und ließ sich in den Fahrersitz sinken. Er schaltete das Radio an. Ein Sprecher teilte mit, die IG Metall habe höhere Löhne für die Metallarbeiter im Osten durchgesetzt; Maschinenbauer erhielten jedoch nur vierzig Prozent des Westgehalts, Chemiker nur dreiunddreißig Prozent. Er schaltete das Radio wieder ab, schaute durch die Windschutzscheibe in die Nacht und summte ein italienisches Lied, dessen Text ihm entfallen war. Die Nachtluft tat ihm gut, aber nicht gut genug; er hatte zu viel getrunken, und jetzt brummte ihm der Schädel. Er dachte unzusammenhängende Dinge. Aus dem Haus drangen dumpfe Bässe in den Garten. Von seinem Beobachtungsposten aus sah er einen Ostonkel und eine dicke Frau, er sah zwei Männer, die sich gegenseitig auf die Schulter schlugen vor Lachen, und dann sah er, wie ein Schatten das Haus verließ. Kurz darauf erkannte er im Garten dieexistentialistische Mia, die seinen Sohn hinter einen perfekt geschnittenen Rhododendronbusch zerrte. John Berkenkamp kramte in der Innentasche seines Smokings nach einer weiteren Jarsin. Er schluckte die Tablette schnell, dann schloss er den Wagen ab und kehrte in den Ballsaal zurück.
1993
Snob
Kilometerstand 162.833
Kurz nach Weihnachten stellte Hannelore Petrowski fest, dass ihr Parfüm aufgebraucht war. Sie schraubte den Zerstäuber auf den Flakon, schüttelte ihn und pumpte mehrmals, klopfte gegen den Glasboden und versuchte zu erkennen, was hinter dem geschliffenen Kristallglas vor sich ging: Der Flakon war leer.
Sie wurde nervös. Es gehörte zu ihrem Morgenritual, sich zu parfümieren, nie ging sie ohne zwei Sprühstöße aus dem Haus, und nie hatte jemand Hannelore Petrowski schwitzend oder derangiert auftreten sehen; sie war immer perfekt gekleidet, und immer umgab sie ein Duft von Hyazinthen und Lilien und Zeder. Es war »Snob« von Le Galion, sie benutzte es, als sie 1953 ihren zweiten Mann, Günther Petrowski, kennenlernte, sie nahm es schon, als Adenauer noch Kanzler war und man noch nichts von einer Mauer ahnte, jetzt hieß der Kanzler Helmut Kohl und die Mauer war wieder verschwunden, aber sie trug immer noch Snob.
Sie riss im Badezimmer Schranktüren auf und wühlte sich durch alte Cremedosen, halbleere Rasierwasserfläschchen und abgelaufene Pflasterverpackungen. Bisher hatte sie immer einen Flakon in Reserve gehabt; über drei Jahrzehnte lang hatte Günther ihr zu jedem Geburtstag einen neuen Flakon Snob geschenkt (der Geschmack seiner Frau war ihm ein Rätsel und das Parfüm eines der wenigen Dinge, von denen er wusste, dass sie sie mochte), deswegen hatte sich im Keller über die Jahre ein beachtliches Flakonarsenal aufgetürmt.
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