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Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Fahrtenbuch - Roman Eines Autos

Titel: Fahrtenbuch - Roman Eines Autos Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Niklas Maak
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mehr als alle homosexuellen Verwandten und alle marodierenden Ostdeutschen zusammen, die ihrer Meinung nach den Ruf der Berkenkamps in der Gemeinde empfindlich beschädigt hatten.
     
    Sie saßen beim Kaffee, als es im hinteren Bereich des Gartens zu einem kleinen Tumult kam. Jemand hatte sich auf einen der wackeligen Tische gestellt. Er war betrunken, er schrie, es sei lächerlich, 1989 als Revolution zu bezeichnen, 1789 sei eine Revolution gewesen, aber wenn ihm jetzt einer erklären wolle, diese Typen, die nach demZusammenbruch eines Systems ein unbewachtes Stück Beton auf Garagentorbreite eingerissen hätten, seien Helden, dann müsse man sich doch mal fragen …
    In diesem Moment stolperte er vom Tisch und wurde von einer Gruppe Männer, die weniger als er getrunken hatten, auf eine Bank gebettet.
    Eine Tante zerrte Bianca am Arm und fragte, ob denn Kinder geplant seien. »Ja«, sagte Bianca und strahlte, »und wenn es ein Mädchen wird, heißt es Soledad.« Henning sagte nichts, aber er stellte sich ein dickes blondes Hamburger Mädchen vor, das Soledad Berkenkamp hieß. Es war definitiv keine gute Idee, in einer Stadt, in der man Nathalie wie Nathallje und Yvonne wie Iwonne aussprach, mit anspruchsvollen lateinamerikanischen Namen zu experimentieren. Aber er sagte nichts; wenn seine Frau es so wollte, würde das Kind auch so heißen.
     
    Am Abend traf man sich in einem Hotel an der Elbe zu einem Essen, das von mehreren Einlagen unterbrochen wurde. Zunächst kamen die Hochzeitsreden der Väter. Biancas Vater, ehemals Leiter einer landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaft, betonte die Leistungsfähigkeit seiner Tochter. Schon als Kleinkind habe sie als erste grabbeln können (Gelächter auf der Hamburger Seite des Tisches), schon mit fünf konnte sie lesen und schreiben, das Abitur bestand sie mit Bestnoden , und sogar einen Angelschein habe sie nebenbei gemacht, was einem ja hier in Hamburg nur nützen könne, einen Fischkopp habe sie sich ja schon geangelt (wildes Gelächter auf der ostdeutschen Seite des Tisches). Herr Berkenkamp ergriff anschließend das Wort. Er betonte, wie sehr er sich über die Wiedervereinigung freue, die einem ja nun eine so charmante und, hummhumm , hübsche Schwiegertochter – und eine so reizende Verwandtschaft beschert habe; dann machte er seiner Frau ein Kompliment für die hinreißende Dekoration der Tafel.
    Nach der gebratenen Ente à l’Orange kam das, wovor sich Henning Berkenkamp bereits den gesamten Abend gefürchtet hatte: der Auftritt seiner Freunde. Die Freunde führten einen Sketch auf, in dem der Bräutigam als erfolgloser Sonderling dargestellt wurde, der beizahlreichen Frauen die größten Peinlichkeiten zustande gebracht und sich damit getröstet hatte, dass er dank seiner Ohren auch ohne Vorschot auf der Alster herumsegeln konnte, bis eine dicke Frau, die einen großen roten Stern aus Pappmaschee auf dem Kopf und weiße Flügel am Rücken trug und die Braut darstellen sollte, ihn als Engel des Ostens von seinen Qualen erlöste. In mehreren Rückblenden wurde das bisherige Liebesleben des Bräutigams und der Braut ausgebreitet (ein paar Hamburger Jurastudenten stellten die zahlreichen ostdeutschen Liebhaber von Bianca dar, indem sie mit schlechtsitzenden Jeans und Palmenfrisuren herumsprangen und obszöne Gesten vollführten).
    Henning schaute grimmig aus seinem malvenfarbenen Anzug heraus und fragte sich, mit welchem Recht diese Gauner, die er für Freunde gehalten hatte, sich nach der Darbietung ihrer spärlich beklatschten Frechheiten weiter an den von seinem Vater bezahlten Sahnetorten schadlos hielten, aber es gibt auf Hochzeiten grundsätzlich nur diese beiden Möglichkeiten: Entweder wird der Bräutigam als Frauenschwarm dargestellt, der nie etwas anbrennen ließ und sich jetzt aus nicht genau nachvollziehbaren Gründen vorläufig und ausnahmsweise auf nur eine einzige Frau festgelegt hatte, was sich jederzeit wieder ändern konnte; oder aber es wird der Braut mitgeteilt, ihr soeben geehelichter Mann sei ein kompletter Trottel, den keine Frau vor ihr hätte haben wollen, und man sei, als besorgter Freundeskreis, der lange schon alle Hoffnung verloren hatte, nun dankbar, dass sich jemand dieses Problemfalles angenommen habe. Gegen diese Reden ist das Theater der Grausamkeit eine Komödie; so viele entwürdigende Erfahrungen wie am sogenannten schönsten Tag des Lebens macht ein junges Paar selten, und dass viele Ehen schnell wieder zerbrechen, liegt

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