Faith (German Edition)
Griff an der zweiflügeligen Tür war hoch, fast in Schulterhöhe angebracht.
Erschreckt zuckte sie zurück.
Vor ihr stand einer der grau gekleideten zwanghaften Tänzer, in deren Sog sie hierher gelangt war, und winkte ihr mit seiner haarigen Hand, sich ihm anzuschließen.
Unwillig und ängstlich tat sie, was er von ihr verlangte.
Sie folgte ihm durch eine Galerie mit wunderschön gearbeiteten Skulpturen, die in den tiefen Nischen zu beiden Seiten standen.
Riesige geflügelte Fantasiewesen verfolgten mit Goldaugen den vorbeigehenden Betrachter.
Vor einem matten, fast schwarzen Hintergrund leuchtete der in allen Farben glänzende Jaspis, aus dem sie gearbeitet waren.
Am Ende des Weges drehte ihr Begleiter eine Pirouette und blieb stehen. Er deutete auf einen schmalen Durchgang und bedeutete ihr, allein weiterzugehen.
Lisa wusste nicht, ob sie froh sein sollte ihn loszuwerden oder nicht.
Sie lief in immer feuchter werdende Dämpfe hinein. Es duftete angenehm nach einer Mischung aus Minze und Rosmarin.
Kleine geflügelte Wesen öffneten die Tür zu einem verschwenderisch ausgestatteten Umkleideraum, in den sie Lisa führten. „Leg deine Kleider ab.“ Sie gehorchte wortlos und wickelte sich in das blauseidene Badetuch, das eine der Feen ihr reichte. Gleich darauf trat Lisa in ein gigantisches Dampfbad. Decken und Wände aus rosenfarbenem, schimmerndem Marmor.
Aus goldenen Armaturen lief kühles Wasser in Kristallbecken, die farbige Funken sprühten.
In der Mitte, unter der Kuppel, erhob sich ein erhöhter Block aus silbern gesprenkeltem Granit, reich mit Porphyr und Achat ausgelegt.
Vor ihr im Dunst stand Annabelle.
Ein seidenes Gewand umfloss ihre schlanke Gestalt wie eine Kaskade aus fließendem Silber. Ihre kalten Augen taxierten Lisa.
Hinter ihr, auf dem gewärmten Stein, saß Faith. Auch sie hatte ein blaues Tuch, das dem ihren glich, um die Hüften gelegt. Dampfendes Wasser umspülte den Granitblock. Lisa war verwirrt. Sie brachte keinen Ton über die Lippen.
„Willkommen, meine Liebe. Ich dachte, ein bisschen Gesellschaft täte Faith ganz gut, nachdem ihr ihre Freunde abhandengekommen sind.“
Am liebsten hätte Lisa diese eingebildete Zicke angesprungen.
„Faith, wo sind wir hier und wer ist das?“ Lisas Stimme klang rau.
Faith weinte fast vor Freude, als sie Lisa sah. Sie hatte keine Antwort auf ihre Fragen nach dem Verbleib von Adam und Jamal bekommen.
Stattdessen hatte man sie in dieses luxuriöse Bad gebracht. Die Lulabellen – die Flügelwesen – hatten sie keinen Moment aus den Augen gelassen.
„Ich bin Annabelle und will deine Freundin beschützen. Wenn mein Bruder sie in die Finger bekommt, ist es aus mit ihr.“ Statt Faith antwortete Annabelle.
Lisa fuhr herum. Unbeherrscht fuhr sie die Frau vor ihr an. „Wieso müssen Adam und Jamal auf dem Meer verrecken?“
Sie kochte vor Wut über Annabelles Verlogenheit und vergaß ihre Erziehung. Warum schickte diese Frau ihre Freunde mit dem kleinsten Boot der Welt in den sicheren Tod? „Was willst du von uns?“
„Von dir, mein Kind, will ich, dass du Faith bei Laune hältst. Und mit euren beiden kleinen Freunden kann ich gar nichts anfangen, sie sind nicht nützlich. Du kannst froh sein, dass ich ihnen die Chance gebe, sich selbst zu retten.“ Sie ergänzte mit spöttischem Lächeln: „Es gäbe da auch andere Möglichkeiten!“
„Aufs Meer hast du sie geschickt? Du bist gemein und hinterhältig. Ich glaube nicht, dass du mich beschützen willst. Du willst mich benutzen!“
Faith schrie so laut, dass das Gelächter in den Nebenräumen erstarb. Erschrockene Gesichter erschienen in den offenen Eingängen.
Aufgeregt schlugen die Lulabellen mit den Flügeln und glitten ziellos hin und her.
Annabelles Gesicht blieb unbeweglich. Eine einzige Handbewegung genügte, um die verstörten Gesichter wieder verschwinden zu lassen.
„Faith, so hat noch niemals jemand mit mir gesprochen. Ich gehe davon aus, dass es niemals wieder geschehen wird.“ Annabelle fügte völlig emotionslos hinzu: „Wenn doch, würdest du mir auch ohne Zunge nützlich sein!“
Lisa schlug die Hand vor den Mund.
Entsetzt sah sie Annabelle hinterher, die, ohne ein weiteres Wort zu verlieren, den Raum verließ.
Richards Bild
Als Ben und Christian die alte Villa wieder betraten, war es fast dunkel geworden. In der Küche brannte Licht, aber weder Madame Agnes noch Wolle waren zu sehen. Die beiden Jungs erschraken. War der alten Dame etwas
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