Faith (German Edition)
besaß eine außerordentlich teure Fotoausrüstung, um die sie jeder Profi beneidet hätte.
Im Übrigen war sie durchaus begabt. Ihre Bilder waren wirklich gut und sie hatte einen Blick fürs Wesentliche. Wenn der Tratsch manchmal bitter für die Betroffenen war, so waren es auch ihre Fotos. Diesmal hatte sie sich selbst übertroffen. Der Artikel über verschwundene Schüler, Entführungen ins Feenreich und dergleichen fantasiereichen Unsinn wurde selbstverständlich von niemandem ernst genommen.
Die Fotoserie allerdings, die Leonhard in einer Umarmung und später händchenhaltend mit einem sehr jungen Mädchen zeigte, musste man ernst nehmen. Der Text unter den Bildern fragte den Betrachter, wie er es fände, wenn Lehrer sich in dieser Weise mit ihren jungen Schützlingen beschäftigten. Das junge Mädchen war keine Schülerin auf Schloss Waldeck, niemand kannte sie.
Die Fotos waren überhaupt nicht anstößig, allein die anzüglichen Texte darunter ließen den Betrachter misstrauisch werden.
Die Direktorin hob den Kopf, als es klopfte. Sie war völlig entnervt. Wie konnte dieses dumme Ding solche Geschichten in die Schülerzeitung setzen. Wenn sie Glück hatte, würde Patricias Elfengeschichte als erfundenes Märchen abgetan, aber was sie Leonhard unterstellte, war bodenlos.
„Guten Morgen, Annegret.“
Leonhard warf die Zeitschrift, die er in der Hand hielt, auf den Schreibtisch und setzte sich unaufgefordert.
„Guten Morgen, Leonhard. Was hat Patricia sich nur gedacht, solche Verdächtigungen in die Welt zu setzen?“
„Sie hat sich über Viktor und Valerie in einer Weise lustig gemacht, die ich nicht dulden konnte. Kritik kann Patricia nicht ertragen.“
Frau Dr. Kirchheim-Zschiborsky sah Leonhard abwartend an.
Und Leonhard erzählte.
Als er mit seinem Bericht fertig war, nickte sie mitfühlend. „Am besten, du regelst das selbst.“
Sie nickte ihm zu.
Leonhard stand auf und ging zur Tür. Er wandte sich noch einmal zu ihr um.
„Was ist dran an dieser Feengeschichte?“
„Komm heute Abend zu mir, dann erklär ich dir alles.“
Sie hätte ihn längst informieren sollen, sie konnte nicht bis in alle Ewigkeit behaupten, die fehlenden Schüler seien krank, oder hätten, wie in Richards Fall, die Schule verlassen.
Als Leonhard das Klassenzimmer betrat, war es mäusestill.
Er legte sein Exemplar der Exquisit sorgfältig in die Mitte seines Pultes und blickte in die Gesichter seiner Schüler.
Die Mienen drückten von Misstrauen bis Neugier alles aus.
„Ich will mit euch heute über journalistische Recherche sprechen.“
Er lehnte sich an seinen Tisch.
„Ich möchte, dass ihr euch Patricias Fotos genau anschaut und mir erklärt, was ihr seht. Vergesst für den Augenblick den Text, der darunter steht. Ja, Lara?“
„Auf dem ersten Bild umarmt ein Mann ein junges Mädchen. Das Mädchen legt ihm die Arme um den Hals. Sein Gesicht wirkt glücklich, es drückt Freude aus.“
„Sehr gut, Lara. Und was seht ihr auf dem zweiten Bild? Bitte, Paul!“
„Ich sehe zwei Menschen die einander an den Händen halten. Ein junges Mädchen steht mit einem älteren Mann vor meinem Lieblingscafé.“
„Vielen Dank für den älteren Mann.“
Leonhard lächelte Paul zu.
„Und das letzte Foto?“
„Noah?“
„Mir läuft das Wasser im Mund zusammen. Auf einem Tisch steht ein riesiger Eisbecher, über den sich ein Kind gleich hermachen wird. Das Kind fasst über den Tisch hinweg dankbar nach der Hand des Mannes ihm gegenüber, der ihm den Eisbecher wahrscheinlich spendiert hat. Ich würde jederzeit gerne mit dir ins Mommsen gehen.“ Noah beendete seine Bildbeschreibung, die schon eher zu einer Interpretation des Geschehens geworden war. Es war klar, dass dem verfressenen Noah vor allem der Eisbecher ins Auge stach.
Die Klasse brüllte vor Lachen und auch Leonhard grinste.
„So, jetzt mal weiter im Text. In welcher Beziehung könnten die beiden zueinander stehen?“
Leonhard wartete.
„Es ist nicht ganz einfach, sich von den Bildunterschriften zu lösen. Sie geben schon eine Meinung wieder, der man sich anschließen kann oder eben nicht.“
Lena hatte gar nicht erst gewartet, bis sie aufgerufen wurde.
„Ich könnte mir sehr gut vorstellen, dass es sich hier um den großen Bruder mit der kleinen Schwester handelt.“ „Oder“, fiel Laura ein, „Vater und Tochter.“
„Ihr seht, es gibt verschiedene Möglichkeiten, Bilder zu betrachten. Wie kann man nun herausfinden, was die Wahrheit
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