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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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umgeben.
Der ehrliche ALWAYS-MERRY-AND-BRIGHT-Henry, der treuherzige Henry Miller - der
zarte, weiche, liebevolle Chronist seiner Kindheit in Brooklyn, gehört dazu.
Dieser angebliche Leichtbau-Antisemit im Kreis seiner jüdischen Freunde, dieser
verbindliche, seriell monogame Rennrad-Enthusiast, der mit seiner jüdischen
Schicksalsbraut June sein Leben lang beschäftigt blieb. Eine Tania gab es in
seinem Leben auch. Jedermann sollte seine Alltagsschwere mal ablegen und bei
Henry etwas dazuzulernen versuchen. Die wichtigste aller Übungen: Die OVARIEN
von Geliebten WEISSGLÜHEN zu lassen. Und dann nichts wie ab auf die bereits
angeschwollene Ovarienbahn, um dem Meister kurz in die Augen zu schauen. Wenn
auch Henrys Tania in Wirklichkeit Bertha hieß und nicht Selbstmord beging wie
meine, sind wir trotzdem Verwandte. Und wir hatten in einem Punkt beide Glück -
wir haben im Leben keine lächerlichen Gegner erwischt. Leider ist der
apolitische Henry in einer ganz anderen Welt aufgewachsen als ich, und seine
mit ihm nie zufriedene Mutter war aus einem mir mehr als fremden Kalkstein
gehauen. Wenigstens gefiel Henry das sowjetische Eine-Meinung-sonst-Handzerquetschen-und-Herzraus-Regime
auf Anhieb nicht. Und wenigstens versuchte er im Jahr 1938 den zweiten
Weltkrieg zu verhindern, indem er einen Marsch von französischen
Kriegsversehrten organisieren und sie massenhaft zu Hitler schicken wollte -
sie sollten möglichst bis an die tschechoslowakische Grenze marschieren. Henry
litt oft Hunger - ich nicht, er ließ sich von einigen seiner Frauen schlecht
behandeln - in meinem Leben gab es keine solchen KREUZIGUNGEN IN ROSA. Was
einem die sozialistische Stabilität gab, diese Art Zukunftssicherheit ohne
Eigenbeteiligung, darüber kann Henry in der Realität nicht das Geringste
erfahren haben. Immerhin war seine erste langjährige Sexpartnerin Pauline etwa
um zwanzig Jahre älter als er. Diese Konstellation glich fast der von mir und
Dana.
    In meinem
Land stolperte man mit den Augen an jeder Ecke über die Losung »MIT DER
SOWJETUNION AUF IMMER UND EWIG« - für ewige Zeiten, hieß es im Tschechischen.
Darüber hatte man sich nicht zu wundern, und man wunderte sich darüber auch
nicht. Und daß man bei allen Revolutionen erst einmal massenhaft Menschen
umbringen mußte, gehörte zu jedermanns Grundwissen seit der Grundschule. Im
Sozialismus gehörte alles allen, und mir wurde erst viel später klar, wie
geprägt ich vom Gefühl des gemeinsamen Schicksals aller fortschrittlichen
Völker, auch vom Gefühl des gemeinsamen Eigentums, gewesen war. Straßen,
Straßenbahnen, Gullys, Laternen, die farbigen kleinen Pflastersteine der
Gehwege, Bäume, Sträucher und Singvögel - das alles gehörte auch mir. Wenn eine
Straße zu viele Schlaglöcher bekommen hatte, wurde sie irgendwann neu
asphaltiert. Wenn man Löcher in den Strümpfen hatte, stopfte man sie wieder mit
Stopfgarn - Stopfgarn und Nadeln gab es in den sozialistischen Geschäften fast
immer zu kaufen. Wenn die Stopferei anschließend familienintern erledigt wurde,
bezahlte man dafür selbstverständlich keinen einzigen Heller. Und da ich das
Stopfen beim Handarbeitsunterricht in der Schule gelernt hatte und diese
Fertigkeit nicht verlieren wollte, stopfte ich meine Strümpfe oft selbst -
ebenfalls umsonst, versteht sich. Wenn aber der Staat seine eigene Straße
gestopft haben wollte, mußte er dafür, wie ich zufällig einmal erfuhr, eine
Firma - seine eigene Firma wohlgemerkt - BEZAHLEN. Ich weiß noch, wie
schockiert ich war, als diese derartig unanständige Transaktion in meine Welt
einbrach.
    Dafür, was
ich in diesem Text meiner Mutter und den anderen Toten antue, werde ich auch
noch bezahlen müssen. Die Schwere meiner Schreibvergehen wird nicht nur in
meiner etwas unanständigen Heftigkeit zu suchen sein. Ich war im Laufe dieser
meiner Aufgabe gezwungen, auch einen Teil meiner politischen Loyalität - meiner
Mutter und ihren ehemaligen Gefährten gegenüber - aufzugeben. Alle diese Leute
mehr oder weniger konsequent zu verraten, könnte man sagen.
    Unsere
Wohnung wurde optisch - auch wenn bei uns niemand übernachtete - von penetrant
gemusterten, meist sehr bunten Vorhängen beherrscht. Diese sollten irgend etwas
abschirmen, verdecken, vereinheitlichen, im Grunde aber auch verschönern -
meist mit Hilfe von großflächigen Blumenmustern. Mein heutiger politischer und
sonstiger Geschmack formte sich wahrscheinlich als Teil einer allumfassenden,
vor allem aber auch

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