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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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konzentrieren. Ich konnte mich bei ihnen
kurz ausruhen. Und das war angesichts der Häßlichkeit vieler befallener
Oberflächen mehr als tröstlich. In manchen Realitätsbrocken steckte erstaunlich
viel Seele, so daß die weiter oben kurz angerissene ding-bedingte Spannung sich
vorübergehend legen konnte. Bestimmte profane.partiell aber doch
hochästhetische Artefakte wurden daher meine Verbündeten, sie forderten nichts
mehr, sie wurden Teilhaber meiner Ordnung - oder vielmehr ich ein Teilhaber
ihrer. Die Masse der übrigen, in Geiselhaft gehaltenen Dinge, ihr
existentielles Unglück oder - oft genug im Sozialismus - ihr falsch gewählter
Einsatz- oder Aufstellungsort rückten in den Hintergrund. Mein wichtigster
Trick bestand also darin, alles Abstoßende zu ignorieren und den unterwegs
verstreuten, in seiner Autonomie und Anmut überlebenden Kleinkram zu mögen.
    Ich
untersuchte wie ein Kleinkind dauernd die Unterlage, auf der ich lief, oder die
Kulissen, an denen ich mich vorbeischlich. Ich fokussierte die leuchtend polierten
Erhebungen von Gullydeckeln, fand eingemeißelte Geheimzeichen auf den
Bordsteinen, feierte widerstandsfähige Muttermale der vielen großflächig
befallenen Häuserwände, freute mich über die zu Stein gewordene und überall in
der Stadt vorhandene Sorgfalt, die mir liebevolle und in längst nicht mehr
gepflegten Gräbern ruhende Arbeiterhände hinterlassen hatten. Einmal entdeckte
ich im Schrank einer billigen Unterkunft überraschend originelle Kleiderhaken.
Diese waren an den Innentüren befestigt, bestanden aus stabilem Kupferdraht,
und jeder von ihnen war etwas unterschiedlich geformt. Die Haken waren
eindeutig das Werk eines heimischen Bastlers - aber was für eines! Alle
Drahtenden wurden mit witzig gerollten Kringeln abgeschlossen, und diese
neigten sich in unterschiedlichen Winkeln zueinander. An jeder Innentür
befanden sich mehrere solche Haken-Ensembles, ihre Anordnung hatte etwas
Harmonisches, von peinlicher Spießigkeit keine Spur. Vor allem die geringelten
Enden beschäftigten mich eine ganze Weile, ihr Zweck war mir ein Rätsel. Die
verspielt wirkenden Drahtenden lagen flach am Holz der Türen, zu etwas
Praktischem konnten sie nicht kreiert worden sein. Irgendwann fiel mir eine für
das Innentürereignis passende Formel ein: NUR SO. Die Drahtenden waren »nur so«
gebogen, in den Nutzalltag ohne jegliche Auflagen entlassen worden. Ein viel
gescheiterer Mensch als ich, der meine Mutter bei einem Empfang in der
israelischen Botschaft mit massiven Flirtattacken bedrängt hatte, hätte dazu
ein mittel- bis schwergewichtiges Diktum abgeben können - beispielsweise
dieses: »Dann liegen die Kunstwerke nackt vor der Prüfung ihres cui bono, vor
dem sie allein das löchrige Dach der heimischen Kultur behütet.« Die Werke
dieses Mannes hätte ich damals noch nicht verstehen, deswegen ihn auch nicht
adorieren können, seinen wunderbaren Namen - Theodor W. Adorno - prägte ich mir
aber für immer ein. Auch über seine Vitalität wußte ich dank meiner Mutter auf
einen Schlag Bescheid.
    - Wir
haben uns in Paris schon mal gesehen, nicht wahr, Verehrteste?
    - Nein,
Herr Adorno, das hätte ich mir sicher gemerkt.
    - Also war
das in Rom? Widersprechen Sie mir bitte nicht!
    Mein
nächster Outdoor-Trick bestand darin, daß ich versuchte, den festgelegten Zweck
der Dinge nicht sofort zu bejahen, sondern die Dinge erst im vorverdauten
Zustand an mich heranzulassen - sie mir von anderen Menschen sozusagen
vorkosten zu lassen. Und manchmal gelang mir dann tatsächlich, das
Erlebnisvergnügen anderer zu simulieren. Meine Rettung waren aber hauptsächlich
- wie bereits mehr als reichlich angesprochen - immer wieder die Frauen. Nur
Frauen konnten mir einen dauerhaften, mit der Wirklichkeit der anderen
harmonierenden Zugang bieten, und ich ahnte, daß ich ohne das frauliche Fluidum
niemals eine Berechtigung für einen einigermaßen befriedigenden
Realitätszugriff bekommen würde. Dank der Frauen war mir die egal wie
fragwürdige Problemnormalität doch einigermaßen vertraut, und ich konnte immer
wieder auch meinen Zukunftsglauben auffrischen. Dieses keusche undselbstlose
An-die-Hand-Nehmen ist einer der Gründe dafür, warum ich allen weiblichen Wesen
für immer etwas schuldig bleiben werde.
    Aus
Dankbarkeit vervollkommnete ich mit der Zeit meine Begabung, in den Frauen
grundsätzlich nur ihre Schönheit zu sehen, auch wenn manche von ihnen mit ihr
nicht übermäßig beschenkt worden waren. Ich

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