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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Platz der Großen
sozialistischen Oktoberrevolution nach rechts, und nachdem sie dabei viel
Asphalt pulverisiert hatten, steuerten die Panzer die Straße des Slowakischen
Nationalaufstandes an - und die sogenannte Pulverbrücke. Über diese überwanden
sie unsere eingleisige lokale Eisenbahnlinie, um die weiterhin hindernisfreie
Fahrt auf dem Boulevard der Verteidiger des Friedens fortzusetzen. Auf der
richtigen Kreuzung nahmen sie dann den kürzesten Weg in Richtung Innenstadt.
Ihre Route tangierte erst das große Gelände der Militärakademie und führte
anschließend durch die aus unseren Fenstern gut einsehbare Mickiewiczstraße
sowie durch die einst mit verdünntem Blut befeuchtete Serpentine. Unterhalb der
letzten Serpentinenbiegung lag an der Moldau schon der Regierungssitz, auf der
anderen Flußseite die Parteizentrale. Eine junge Frau aus unserem Haus winkte
den durch die Mickiewiczstraße fahrenden Soldaten über den Gartenzaun zu.
Vorbeiziehenden Soldaten winke man eben. Das tue ihnen hier in der Fremde, so
fern ihrer Heimat und so spät nach Mitternacht, sicher gut. - Das bin ich seit
meiner Kindheit so gewohnt, meinte sie.
    Kurze Zeit
später stellten sich andere Prager den Panzern in den Weg und wurden überrollt.
Besonders viele Menschen kamen zum Rundfunkgebäude und kesselten die Panzer
regelrecht ein.
    Dabei
gelang es einigen, mit Eisenstangen oder Spitzhacken Löcher in die Fässer mit
Treibstoffreserven zu schlagen, die die Panzer im Huckepack trugen. Manche der
Panzer brannten sofort los, bei anderen mußte man mit Stoffetzen und
Streichhölzern nachhelfen. Mit solchen Nahkämpfen hatten die Russen offenbar
nicht gerechnet. Wenn man an die Panzer dicht genug herankam, hatte man
einigermaßen gute Karten, nicht gesehen und nicht erschossen zu werden. Der
Rundfunk sendete allerdings bald schon von woanders, die Redakteure meldeten
sich weiterhin mit ihren vollen Namen. In den brennenden Panzern begann
irgendwann die Munition zu explodieren.
    Nachdem
die Kämpfe abgeklungen waren, herrschte in der Stadt eine euphorische Stimmung,
der Tagesrhythmus war wie verlangsamt, Streß und Probleme hatten eher die
Besatzer. Und ich erlebte Abenteuerferien erster Güte. Als beim Abreißen eines
Straßenschildes ein Panzerwagen an mir vorbeifuhr und nicht schoß, fühlte ich
mich wie ein Held. Diese ersten Runden haben wir eindeutig gewonnen, die
verstummten Besatzer hatten nach mehreren Tagen immer noch keins der Medien in
der Hand. Die volkseigenen Druckereien druckten dagegen am laufenden Band
Flugblätter und Notausgaben der Zeitungen, der Vertrieb lief reibungslos. Die
Russen hielten wenigstens mit Panzern alle Brücken besetzt, auf dem Altstädter
Ring stand im Kreis eine ganze Batterie von Flugabwehrkanonen. Da auch die
Polizei und die Geheimdienste am Widerstand teilnahmen, hatten die Russen von
dieser Seite keine Hilfe zu erwarten. Aus Wut zerschossen sie uns nebenbei die
Fassade des Nationalmuseums. Als Antwort hat man die dabei entstandene
Fassadengrafik prompt nach dem sowjetischen Verteidigungsminister benannt - EL
GRETSCHKO.
    Wie hoch
wir eigentlich verloren hatten, bekamen wir erst nach und nach zu spüren. Und
irgendwann mit voller Härte. Daher waren für mich die folgenden Jahre viel
prägender als der kurze Sieg. Der gewohnte sozialistische Raubbau kam bald
wieder in Gang, und die Tschechen traten jetzt unter russischer Aufsicht -
regulär nur gegeneinander an, das heißt Mann gegen Mann. Und man konnte ganz
sicher sein: Das größere Schwein gewann immer.
    Wohin der
ganze Reichtum des Landes in den letzten zwanzig Jahren immer wieder verschwunden
war, war marxistisch-leninistisch schwer zu klären - er war aber nachweislich
in ein unendlich tiefes Loch gefallen. Das geraubte deutsche Eigentum war weg,
die Schätze der nach 1948 enteigneten tschechischen Privatwirtschaft waren
ebenfalls in kurzer Zeit aufgerieben. Und natürlich hatte der
Kollektivierungsraub des landwirtschaftlichen Bodens die neue Republik auch
nicht reich gemacht, genausowenig wie der Raub aller relevanten Guthaben bei
der Währungsreform von 1953 - bei dieser Armutssprechung auch jedes einfachen
Sparers. Vor dem Krieg hatte die Tschechoslowakei zu den wirtschaftlich und
kulturell führenden Ländern Europas gehört.
    Nach dem
Einmarsch kam der SPIEGEL noch weiter an, pausierte einige Wochen, trudelte
dann und wann wieder ein. Irgendwann wurde meine und Mutters Quelle aber
abgewürgt, und unsere glückliche Spiegelzeit ging

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