Faktor, Jan
Wunschtraum
besaß in den rosigen fünfziger Jahren punktuell vielleicht noch etwas Realität.
Damals fanden an den Wochenenden tatsächlich noch freiwillige Arbeitseinsätze
statt, bei denen die Prager in Scharen die Straßen ihrer Umgebung säuberten und
ihre in der Nähe liegenden Parks pflegten - im Rahmen der sogenannten »Aktion
Z«. Wir Kinder machten begeistert mit. Das »Z« stand dabei für ZVELEBOVÄNI, was
auf Tschechisch etwa Hebung, Belebung, Veredelung bedeutet. Dieser Aktionismus
schlief irgendwann natürlich ein, und nach dem Einmarsch machte man im Rahmen
der dumpfen Unzufriedenheit dann überhaupt nichts mehr - für die Stadt nicht,
nicht für den Staat, für den Sozialismus schon gar nicht. Jedenfalls nichts,
was man nicht unbedingt tun mußte - und auch das tat man möglichst nur zum
Schein. Dabeiwurde man in dieser Zeit der NORMALISIERUNG - dieses
euphemistische Vergewaltigungswort war der Stützpfeiler der offiziellen
Rhetorik - pausenlos darauf getrimmt, alles besser zu machen als während der
konterrevolutionären VERIRRUNG von 1968.
Die
allgemeine Schlamperei der Normalisierungszeit war trotzdem grenzenlos, auch in
den Staatsämtern, bei der Polizei und der Stadtverwaltung - dort zelebrierte
man vor allem die Frühstücks-, Mittags- und Kaffeepausen. Und zwischendurch
auch noch die Pausen für zwanglose Unterhaltungen, also die Besprechungspausen.
Die Folgen bekam man immer wieder zu spüren. Man kontrollierte die Kanalisation
nicht mehr, achtete nicht auf verdächtige Absackungen und Absenkungen des
Bodens, und eines Tages wurde bei starkem Regen eine Straße vollständig
unterspült. Der Bürgersteig samt einer Haltestelle öffnete sich, und auf einen
Schlag verschwand eine Menge Prager Bürger unter der Erde. Oder war das in
Brünn? Ehrlich gesagt las ich, seitdem die Russen im Land waren, überhaupt
keine Zeitungen mehr. Manche unserer Mitmenschen hielten sich bei der Absackung
angeblich an den bröckelnden Rändern des Lochs noch eine Weile fest, bis auch
sie den anderen folgten. In der Stadt lief jedenfalls - Brünn hin oder her -
eine Unzahl von zuverlässigen Augenzeugen herum. Den nichtssagenden
Kurzmeldungen in der Presse, in denen dieses Unglück verharmlost wurde,
mißtraute man zutiefst. Um so aufgeregter wurde die Sache diskutiert, die
Augenzeugen, die dem Unglück nur knapp entkommen waren, waren unsere neuen
Helden. Manche der Abgesackten wurden angeblich nie gefunden. Vielleicht waren
aber auch gute Schwimmer dabei, meinte jemand.
Daß ein
alter Mann aus unserer Nachbarschaft in Eigeninitiative Schilder mit einem
roten Pfeil und der Aufschrift »BURG« an den Laternenpfählen befestigte, paßte
nicht unbedingt in diese lethargischen siebziger Jahre - der Mannhatte für
seinen Eifer aber einen handfesten Grund. Er bastelte die Schilder selbst,
sogar bei der Aufstellung kletterte er ohne fremde Hilfe auf seine wacklige
Leiter. So bestückte er nach und nach auch etwas entferntere Ecken der Gegend.
Mit seinen Schildern wollte er nicht nur den armen, in unserer Gegend
regelmäßig unglücklich werdenden Touristen helfen, er wollte auf seiner
Parkbank einfach seine verdiente Ruhe genießen. In dieser Zeit wurden wir
leider alle belästigt, nicht nur er. Die Touristen stellten - tags wie nachts -
jedermann die gleiche Frage:
-
HRADSCHIN? Wo ist hier die Burg? We don't see any castle
here. Can you help us?
Das
Problem unseres schönen Stadtteils bestand nicht darin, daß man uns die Burg
weggenommen hätte. Unser Problem war, daß am »Boulevard der Verteidiger des
Friedens« eine Metrostation mit dem - auf die amtliche Bezeichnung
unseres ganzen Viertels bezogenen - Namen »Die Hradschiner« gebaut worden war.
Diese Station lag allerdings auf der flußabgewandten Seite der Burg, weit
unterhalb der eigentlichen Burganhöhe. Außerdem wurden die Aussteigenden auf
dem so eindrucksvoll verbreiteten »Boulevard« erst einmal in die vollkommen
falschen Richtungen orientiert - also dorthin, wo die Burg eben NICHT lag. Und
die Burg konnte man von hier beim besten Willen auch nicht sehen. Was man nach
dem Auftauchen aus dem Untergrund sah, waren mehrere Bus- und
Straßenbahnhaltestellen, dieser Anblick war allerdings trügerisch. Bergauf zur
Burg führten von diesem Knotenpunkt aus nicht nur keine Schienen, sondern auch
keine anderen Verkehrswege; alle vorhandenen Querstraßen waren längst
verbarrikadiert. Die Burg lag im Grunde nicht weit weg und war zu Fuß
einigermaßen gut
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