Faktor, Jan
Mann, ausnahmsweise auch die tschechische Frau, Dinge sehen,
die man im Sozialismus bis dahin noch nie gesehen hatte.
Große und
komplizierte Gebäudekomplexe konnte die sozialistische Bauwirtschaft nicht mehr
eigenständig bewältigen - in einem vernünftigen Zeitrahmen jedenfalls. Sicher
wollte man mit der Vergabe dieser Großaufträge verhindern, daß im Zentrum der
Hauptstadt jeder sehen konnte, was auf einer einheimischen Baustelle alles
passierte - oder eben nicht passierte. Man ließ also für teure Devisen die
Schweden kommen - und ihre Zulieferer, also tschechische Firmen, bezahlte man
ebenfalls mit harten Devisen. Was sich unsere Wirtschafts- und Parteikapitäne
damit eingehandelt hatten, ahnten sie nicht. An vielen Orten, in vielen Büros
stand oft die Arbeit still, weil die Belegschaft RICHTIGE ARBEIT SEHEN WOLLTE.
Man ließ alles stehen und liegen und wanderte während der Arbeitszeit zu den
Baustellen. Diese wurden regelrecht belagert, Menschen hielten sich dort
stundenlang auf, standen wie festgenagelt an den Zäunen und schauten zu. Nach
und nach wechselten sich dort ganze Menschentrauben ab, und wenn irgendwo ein
besonders erstaunlicher Arbeitsvorgang gestartet wurde, verlagerten sich die
Beobachtungstrupps einfach am Zaun entlang - in einer geschlossenen Formation
wie ein Bienenschwarm.
Was hinter
dem Zaun vor sich ging, war wirklich kaum zu fassen. Die Schweden arbeiteten
überhaupt nicht hastig, trotzdem unglaublich effektiv. Nichts stand still, alle
Arbeiten schlossen sich nahtlos an die vorherigen an - und am nächsten Tag war
der Bau wieder sichtbar vorangeschritten. Deswegen mußte man auch jeden Tag
wenigstens einmal vorbeigeschaut haben. Die Schweden waren bald sichtlich
genervt - kamen sich hinter dem Bauzaun wie zur Schau gestellte Exoten vor.
Das Tempo,
mit dem die neuen Kaufhäuser im Stadtzentrum wuchsen, gehörte für die Tschechen
zu einer Art Weltwunder. Auf den tschechischen Baustellen geschah trotz der
Präsenz vieler geschickter Hände monatelang manchmal gar nichts - obwohl dort
auch viele Arbeiter in Bewegung gehalten wurden und nachprüfbar irgend etwas
taten. Manche von ihnen standen natürlich auch manchmal herum, manche rauchten
pausenlos, andere aßen oder warteten auf irgendwelches Material, das bis auf
weiteres nicht lieferbar war. Trotzdem - an sich waren diese Leute natürlich
nicht faul, sie machten sich tagtäglich ihre Gedanken, was sie als nächstes
anpacken könnten; und wenn dann ihre Stunde kam, legten sie auch los. Wirklich
Tag für Tag ihres baulichen Berufslebens. In welchem schwarzen Loch ihre Arbeit
verschwunden war, blieb letzten Endes schleierhaft - oft sicher auch für sie
selbst. Als Außenstehender konnte man ewig darüber grübeln - bis man irgendwann
feststellte, daß auf manchen Baustellen überhaupt keine Änderungen des bereits
Erreichten zu entdecken waren. Manchmal realisierte man erst mit einer
Verspätung, daß sich deswegen überhaupt nichts tat, weil alle Arbeiter komplett
abgezogen worden waren. Warum dann plötzlich nur diejenigen wiederkamen, die
erst einmal nichts zu tun hatten, erfuhr man auch wieder nicht. Schon am Rohbau
größerer Gebäudekomplexe wurde quälend lange herumgewerkelt, anschließend
wurden diese Monsterklötze unendlich lange in ihrem Inneren ausgebaut - und man
sah von außen wieder keine Fortschritte. Vor allem diese Feinarbeiten konnten
sich mehrere Jahre hinziehen. Als manmit dem Innenleben der Bauten endlich
fertig war, ging es schon wieder mit den Reparaturen und Ausbesserungen am
nicht ausreichend geschützten Äußeren des Rohbaus los. Die strengen
sozialistischen Winter hatten den in der Zwischenzeit nicht beheizten
Geisterbauten sowieso schwer zugesetzt. Kurze Zeit nachdem diese Gebäude
bezogen worden waren, sah man ihnen schon die ersten Zerfallserscheinungen an
und empfand tiefste Schadenfreude.
Bei den
Schweden war alles anders. Man spürte eine Art Ablaufharmonie, wie man es von
Körperschaften der großen Kunst, zum Beispiel von Weltklasseorchestern, kannte.
Man beobachtete das respektvolle Miteinander zwischen Mensch und Maschine,
zwischen der unsichtbaren Leitungsebene und der ausführenden Arbeiterschaft - und
nahm das offenbar widerstandslos angenommene Ticken irgendwelcher riesigen
Harmonogramme wahr. Es gab keine Hektik, keine Auseinandersetzungen oder vor
Wut durch die Luft fliegende Werkzeuge, auch keine chaotisch abgelegten
Materialreste, keine Berge von Schutt und Abfall. Die Overalls der
Weitere Kostenlose Bücher