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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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erreichbar - theoretisch jedenfalls. In unserer Gegend irrten
also ständig Touristen umher, die ihre Stadtpläne in den Händen hielten und
versuchten, sie nach Norden auszurichten. Sie drehten sich dabei wiederholt um
ihre Achse, kämpften auf den kaputten Bürgersteigen mit ihrem Gleichgewicht und
störten. Manche liefen erfolglos umher und sahen wiederholt zum Himmel in der
Hoffnung, dort die riesigen Türme des Veitsdoms zu entdecken. Die Burg und der
Dom befanden sich dabei südlich von ihnen, verborgen hinter Häusern und den
Bäumen unserer Parks. Viele der Touristen gerieten in Verzweiflung. - BURG -
CASTLE - CASTELLO - CASTILLO?
    Unter den
Burgsuchenden hatte auch unser Zentralkneipier zu leiden. Es war derselbe Mann,
der sich Sorgen um mich gemacht hatte, ich könnte zum Biersäufer werden. In der
Nähe der Metrostation gab es selbstverständlich keine öffentlichen Toiletten,
und die fremdländischen Orientierungsläufer mußten irgendwann - streßgeladen,
wie sie waren - auch pinkeln gehen. Der Kneipier sah ihnen ihre gutgefüllten
Harnblasen sofort an. Diese Leute hatten einen speziell fragenden Blick,
hielten einen Stadtplan in der Hand und liefen leicht schuldbewußt auf seine Kneipe
zu. Wenn er diese Nur-Pissen-Woller sah, fackelte er nicht lange und
verscheuchte sie möglichst schon in seinem Vorgarten. Ob sie vielleicht auch
essen oder trinken wollten, war zweitrangig - er mochte diese herumhetzenden
Ausländer einfach nicht. Er fühlte sich von ihnen von vornherein beleidigt, da
diese Leute sein gemütliches Gartenlokal nicht würdigen, sondern im Grunde nur
weiterziehen wollten - zur Burg eben. Man sah den Mann oft, wie er aus der
Kneipentür hinausgerannt kam und auf Deutsch und Englisch brüllte:
    - NEIN!
HIER NICHT! - DETS ENAF! NOU PISS! NOU DABBEL-JÜ-SI! WIR SIND
EINE GASTSTÄTTE!
    Von den
meisten Menschen unbemerkt, kreuzte während meiner Kindheit ein pensionierter
Straßenpflasterer durch Prag, der sich auf das Ausbessern kleinflächiger
Bürgersteigschäden spezialisiert hatte. Offenbar konnte er den Anblick von
kaputten Bürgersteigen nicht ertragen und wollte sich partout nicht zur Ruhe
setzen. Ob er wenigstens für die sensibleren Prager ein Begriff war, weiß ich
nicht - für mich war er es auf alle Fälle. Die verlotterte Stadtverwaltung war
bei der Beschäftigung mit sich selbst und beim hausinternen Herumgequatsche
schon immer ausreichend gefordert, die Stadt wurde nach Möglichkeit sich selbst
überlassen. Neben der dauernd von neuem zerfallenden historischen Bausubstanz
auch noch alle Prager Bürgersteige in Schuß zu halten, sogar kleinste Schäden
kontinuierlich beseitigen zu lassen war einfach zu viel verlangt. Die
Bürgersteigpflasterung bestand zu allem Unglück aus kleinen rosafarbenen und
bläulichen Steinen und sollte bestimmte historische Muster aufweisen. Der alte
Einzelkämpfer fuhr auf eigene Faust mit seinem Handwagen tagaus, tagein herum,
legte die kaputten Stellen frei, füllte sie mit seiner speziellen
Sand-Kalk-Mischung, belegte sie mit den Piastersteinen, klopfte dann mit
gezielten kurzen Schlägen auf jedes einzelne dieser Steinchen und ließ nach und
nach die beschädigten Mosaikmuster neu entstehen. Wenn er sich vom Boden zu
erheben begann, dauerte es eine Weile das Strecken seiner Knie fiel ihm schwer.
Wenn er sich wieder aufgerichtet hatte, sah man ihm seine Schmerzen auch
deutlich an. Am Ende stampfte er die reparierten Stellen mit einer hölzernen
Handramme fest. Sand, Kalk, Wasser und einen Vorrat an Pflastersteinen hatte
der Mann in seinem Wägelchen immer dabei. Irgendwann gab es den Mann, der unser
auseinanderfallendes Prag geflickt hatte, leider nicht mehr. Nach dem Einmarsch
der Russen hätte eine derartige Epiphanie sowieso nicht ins Straßenbild gepaßt.
Dieser Mann war für mich immer ein Vorbild, und er blieb es auch.
    Der
Allgemeinheit wurde in den siebziger Jahren etwas ganz anderes zum Staunen
geboten. Besser gesagt - zum Glotzen, Anhimmeln und Nichtfassenkönnen. Es war
nichts Göttliches, es waren ganz irdische Trupps konzentrierterschwedischer
Bauarbeiter. Die Schweden haben uns im Dreißigjährigen Krieg unglaubliche
Schätze aus der eigentlich uneinnehmbaren Prager Burg geklaut, da sie von einem
verräterischen Mönch hineingelassen worden waren - und haben uns die geraubten
Kostbarkeiten nie wieder zurückgegeben. Vielleicht als eine kleine
Entschädigung boten sie uns jetzt etwas anderes an. Auf den Baustellen konnte
der tschechische

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