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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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zwar viel Liebe, andererseits
waren sie auch uneingeschränkt bereit, Liebe zu geben. Offenbar lebte ich in
der glücklichsten Stadt auf Erden. Als ich im Dunkeln nach Hause lief - in
einer Straßenbahn hätte ich nicht für mich allein sein können -, sah ich, wie
schön meine Stadt war, in was für einer zauberhaften Gegend ich wohnte. Wir
wohnten wirklich sehr schön in unserer Stadt.
    Der
vorherige Satz ist einigermaßen ernst gemeint. Egal wann, egal wo, egal wem ich
sagte, wo unsere Wohnung lag, lautete die Standardreaktion immer: - Schön, so
schön, eine so wunderschöne Gegend ...
    Und es war
tatsächlich eine Ausnahmegegend, in der unser etwas in die Breite gezogenes und
mit einer dunklen Staubschicht konserviertes Mietshaus stand. Das Zentrum von
Prag war nicht weit, war problemlos zu Fuß zu erreichen, trotzdem gab es in
unserer Gegend viel Grün und viele unbebaute Flächen. Das Renaissanceschloß der
Königin Anna - das Lustschloß Belvedere - lag in Sichtweite, und ein riesiges
barockes Stadttor thronte gleich um die Ecke. Das Tor, das auf Tschechisch
»Piseckä bräna« heißt, war an den Seiten mit Gras und Büschen bewachsen - und
ist es bis heute, nur im anderen Pflegezustand. Von links und rechts sieht das
Tor wie ein begrünter Hügel aus. Die seitlichen Hänge, also die steilen und
damals nicht umzäunten Steigungen konnte man vom Bürgersteig aus problemlos
betreten. Daß es eigentlich verboten war, kümmerte niemanden.
    Zum
Zusammenrotten von Jugendlichen war die Umgebung des Stadttores ideal. Oberhalb
der Festungsgräben gab es etliche Ecken, in denen man auf dem massiven Geländer
in einer Reihe sitzen und von diesen exponierten Posten den ganzen Nachmittag
den Überblick behalten konnte. In der dunklen Durchfahrt des fünfundzwanzig
Meter tiefen Tores hörte man oft kreischende Mädchenstimmen und ging
erfahrungsgemäß von Grapschattacken aus. Die Kinder, die nicht beim Rauchen
erwischt werden wollten, haben mit Vorliebe dort in der Dunkelheit geraucht und
sich von den Autos, denen die Durchfahrt damals noch erlaubt war, nicht stören
lassen. Das Stadttor war das eigentliche Zentrum des Geschehens, der
Aktionsradius aller Beteiligten war aber wesentlich größer. Unterhalb der
Stadtmauern, also in den ehemaligen Festungsgräben, wucherten teilweise dichte
Büsche oder gestutzte und dicht gewordene Eibenhecken. In dem nahe gelegenen
Chotek-Park, dem Lieblingspark von Franz Kafka, war der Wildwuchs in den Randzonen
sowieso enorm. Überall konnte man zu ganz unterschiedlichen Zwecken
untertauchen und dort für Stunden unbemerkt bleiben. Die älteren Jugendlichen
nutzten die vielen Verstecke natürlich nicht zum Spielen und schleppten dorthin
ihre Bräute ab. Wenn nötig, verscheuchten sie dabei die jüngeren und drohten
ihnen Prügel an. Was sie dort mit ihren Weibern tatsächlich anstellten, konnten
wir nur ausnahmsweise überprüfen, waren im Grunde nur auf die nachträglichen
Prahlereien angewiesen. Nur ein einziger gab einmal zu, wegen eines
BH-Verschlusses gescheitert und nicht sehr weit gekommen zu sein. Diese jungen
Böcke kochten unsere Neugier natürlich nur zu gerne auf und ließen uns ihre
Anmach-Gespräche einfach mit anhören.
    - Komm
mit, laß uns bumsen, komm.
    - Jetzt
nicht, hab' keine Zeit.
    - Geht
doch schnell, bist aber stur.
    - Nein,
will heute nicht.
    - Warum
gerade heute nicht?
    - Hab'
heute eben keine Lust.
    - Hör mal
auf, immer das gleiche zu plappern - wir verlieren nur Zeit.
    - Ich will
aber nicht.
    - Mann!
Jetzt hätten wir schon längst fertig sein können! Scheiße!
    - Ich kann
nicht.
    - Hast du
deine Tage? Mir macht das nichts aus. Komm doch.
    - Will
nicht, will heute nicht.
    Das
dickliche Mädchen war alles andere als schön, sah beim Sprechen immer wieder
uns, das staunende junge Publikum, an, und schämte sich nicht - warum auch. Die
junge Frau wurde begehrt und hatte die Macht, eine ganze geile Bande samt ihres
Nachwuchses in Schach zu halten. Das nachfolgende Streitgespräch unter uns
Jungkadern drehte sich vor allem um die Dauer des Geschlechtsverkehrs.
    - Es ist
ganz schnell vorbei. Ganz sicher, es geht wirklich ruck, zuck.
    - Quatsch,
auf keinen Fall. Das kann auch eine Stunde dauern. Und hinterher ist man müde
und muß kurz schlafen.
    Wir alle
wohnten nicht nur DIREKT in der »Goldenen Stadt«, nicht nur in einer
erotikgeladenen grünen Oase, nicht nur knapp unterhalb der Prager Burg - wir
wohnten gleichzeitig unmittelbar auf der Bruchstelle zu dem

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