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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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doch offenstehenden Fenster saß und ich ihr schattiges
Gesicht entdeckte, erschrak ich.
    - Wer
wohnt hier unten? Kann man hier überhaupt wohnen? fragten manchmal
Schulfreunde, die mich unbedingt bis zur Haustür begleiten wollten.
    - Eine
alte Frau, sagte ich so neutral und so schnell wie möglich. Meistens ist sie
aber gar nicht da.
    Tante
Peprl war aber immer da, darauf konnte man sich verlassen. Man mußte für sie
manchmal eilig Dinge besorgen gehen, die bei ihr trotz ihrer schriftlichen
Bestellungen - diese steckten in einer Art von totem Briefkasten im Treppenhaus
- immer noch nicht angekommen waren. Ich war eben nicht der Einzige, der sie
wiederholt ausblendete. Die tatsächlich Toten unserer Familie - wie die drei
Schornsteinbrüder - waren bei uns oben auf alle Fälle präsenter als sie.
Jedesmal, wenn ich Peprls winzige Wohnung betrat, überraschte mich, wie
zufrieden sie wirkte. Manchmal saß sie im Dunkeln auf ihrem Küchenstuhl und
meinte, beim Nachdenken müßten im Grunde auch andere Menschen nicht unbedingt
das Licht brennen lassen - nicht nur sie.
    - Meine
größte Freude seid ihr Kinder, weißt du das? Und vor allem du, erzähl das aber
nicht den Mädchen.
    Bei uns
oben herrschte mehrheitlich die Meinung, Tante Peprl hätte es dort unten schön
ruhig, und wegen ihrer Hüftprobleme sei es auch ihr Wunsch gewesen, nicht so
weit oben zu wohnen. Sie selbst sprach so ähnlich darüber.
    Was für
ein Glück, meinte sie, daß sie trotz der schrecklichen Wohnungsnot in Prag so
nah bei uns wohnen könne. Manchmal versuchte sie über ihre Existenz sogar zu
scherzen - in der Art, wie sie es aus der oberen Familienetage kannte.
    - Ich
trainiere hier unten schon für den Friedhof.
    Weit und
breit gab es in Prag keine Familie wie die unsere. Die anderen Brutzellen der
Gesellschaft waren wesentlich übersichtlicher. Ich konnte mir lange Zeit trotzdem
keine anderen Existenzumstände vorstellen und hatte auch gar keinen Grund dazu.
Meine Normalität sah so aus, daß ich pausenlos und intensivst von lauter mir
zugewandten Frauen umgeben war. Diese fragten mich zwischendurch nicht nur nach
meinem allgemeinen Befinden, sondern auch nach ganz speziellen Dingen, die in
anderen Familien, wie ich annahm, kaum abgefragt wurden. Unter Umständen bekam
ich mehrmals am Tag folgendes zu hören:
    - Hast du
heute schon gekackt, Georg?
    - Immer
schön im Sitzen essen! Sonst rutscht dir alles gleich nach unten, und du
bekommst dicke Beine.
    - Hast du
heute schon ... groß, sag mal?
    Jedesmal
war ein anderer Akzent dabei, manchmal kam die Frage aus Versehen auf
Ungarisch.
    - Kakiltäl
ma mär, Georg?
    Für ihre
Penetranz konnte ich meine Damen problemlos bestrafen - mit harmlosen Lügen
über eine langandauernde Verstopfung oder über Blut im Urin. Die kurze
Erstarrung, die nach solchen Scherzen die ganze Wohnung durchfuhr, war
erfrischend. Zu den mich liebenden Frauen konnte ich bald auch meine beiden
Cousinen rechnen, die wesentlich schneller reiften als ich und auch in ihrer
Fürsorglichkeit schnelle Fortschritte machten. Dabei war eine von ihnen jünger
als ich. Der Vater dieser beiden Kleinode, mein Onkel ONKEL, konnte mir als Gegenspieler
und männlicher Konkurrent niemals gefährlich werden. Ich allein war das
männliche Prachtstück unseres Geschlechts.
    Die Schar
der fraulichen Wesen um mich herum wurde noch durch etliche, nicht bei uns
wohnende Großmütter verstärkt. Manche von ihnen waren allerdings nur virtuelle
Großmütter, weil sie enkellos geblieben waren. Bei diesen zusätzlichen und
ausnahmslos großbusigen Wesen handelte es sich um die Mütter der geflüchteten
oder verstoßenen Männer. Diese oft schon verwitweten oder eben alleinstehenden
älteren Damen kamen, weil sie auf die lebenslustige und anziehende Gemeinschaft
in unserer Wohnung nicht verzichten wollten. Sie schlugen sich logischerweise
auf die Seite der Majorität und wetterten offen gegen ihr eigenes Fleisch und
Blut, vor allem aber gegen ihre neuen Schwiegertöchter.
    - Er war
so ein süßer Junge! Leider ist er immer wieder an schlechte Freunde geraten -
und jetzt an diese Frau.
    Renata,
die Mutter des Onkels, hielt sich, wenn es um ihren einigermaßen präsenten Sohn
ging, mit Kritik selbstverständlich zurück. Die übrigen freundlichen Geschöpfe
hießen Grete, Sidla und Ludmila, wobei die letztere eine echte Großmutter von
mir war - der zu ihr gehörende Sohn war mein mißratener Vater. Alle diese Omas
und Fast-Omas kamen zu uns in erster

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