Faktor, Jan
konnte aber nicht immer vor den Rundfunkbelästigern flüchten. In
meiner Werkstatt war es zum Glück meistens laut genug, das Radio wurde aber
nicht immer vollständig übertönt. Mein geliebtes Tschechisch füllte sich in den
Mäulern der Sprecherprofis mit völlig überflüssigen, gerngewichtigen Pausen und
kleinen Zusatz-Zäsuren. Die von den Ansagern gekonnt ziselierten Sätze bekamen
außerdem sinnwidrig akzentuierte und übertrieben melodiöse Hebungen. Zusätzlich
zu denen, die zum natürlich gesprochenen Tschechisch sowieso gehören.
Ich
versuchte im Rahmen meiner Seelenhygiene wenigstens, für die diversen
Vergewaltigungsakte an der Sprache sachliche Beschreibungen und Termini zu
finden. Die angestrebte überkorrekte Intonation sollte uns offenbar - halb
singend eben - gedankliche Tiefe, Wahrhaftigkeit und Empathie vorgaukeln. Dabei
klang die zur Schau gestellte Lebendigkeit dieser Vorsinger nur nach
unreflektiertem Kalkül. Diese munteren Stimmen waren bemüht, einen
A-priori-Gleichklang mit uns Hörern herzustellen, uns alle auf den dümmlichsten
gemeinsamen Nenner zu bringen. Anschließend sollten wir alle so etwas wie ein
dauerfröhliches Miteinander zelebrieren. Wer sich nicht einbeziehen lassen
wollte, sollte - wie ich - unten im Dreck an der Seite des niederen
Proletariats vergammeln, seinen Unwert verinnerlichen und beim Anblick der
übrigen Verkrachten in sich gehen.
Leider
stießen die Sprachdeformationen erstaunlich viele Menschen überhaupt nicht ab,
und der Normalbürger gewöhnte sich an das angebotene Verdummungstheater
rechtschnell. Auch an den auffälligsten intonatorischen Unstimmigkeiten störte
man sich nicht anders als an harmlosen Verhaspelungen - und irgendwann wurden
nicht einmal mehr die brisantesten NEUERUNGEN registriert. Der galoppierende
Sprachbefall gehörte zu unserem Alltag. Auch der allseits bekannte Spruch der
»netten Tür« in der U-Bahn - »Ukoncete vystup a nästup, dvefe se zaviraji«
(Beenden Sie den Aus- und Einstieg, die Tür schließt) - klang in meinen
musikverwöhnten Ohren grauenhaft. Dieser Singesatz folterte mich jahrelang,
eisern bei jeder einzelnen Fahrt bis zum Aussteigen, konsequent in jeder
Station, unzählige Male jeden Tag, wieder und wieder. Der Spruch empörte mich
wegen der in ihm steckenden Überzeugung, Fürsorglichkeit auszudrücken, quälte
mich mit seiner selbstzufriedenen Gewißheit, in der unveränderlichen Frische
auch zukünftig immer weiter tönen zu dürfen. Die ihm innewohnende aufgesetzte
Freundlichkeit widersprach in erster Linie der VERACHTUNG, die uns der Staat
jeden Tag sonst entgegenbrachte. Und weil dieser Staat ein zentral organisiertes
Gefüge war und alle seine Teile - auch alle seine Waggons, Türen und
Lautsprecher - für die gemeinsamen, von den Einheitsgangstern der Partei
ausgerufenen Ziele zu kämpfen hatten, war auch diese Stimme die STIMME DER
PARTEI, sie war für mich ein Teil ihres unendlich mächtigen Propagandachors.
Auf der
Straße sprach man untereinander natürlich noch anders. Die melodiöse
Verlogenheit expandierte aber trotzdem - ganz ähnlich sprachen plötzlich auch
Redakteure von wissenschaftlichen Sendungen oder Verkünder irgendwelcher
Neuigkeiten für Bastler. Die ekligen Stimmhebungen verunstalteten bald jeden
gewöhnlichen Aussagesatz, nach und nach wurde jede Natürlichkeit aus den
offiziell gesprochenen Sätzen getilgt. Jeder Mensch, der in den Medien anders
gesprochen hätte, hätte verraten, sich nicht an die geltenden Regeln halten zu
wollen - man hätte ihn früher oder später von seinem Mikrophon verjagt.
Schließlich übernahmen nach und nach auch alle Schauspieler diesen künstlichen
Tonfall, und das Neu-Tschechisch fraß sich gnadenlos in die Kulturlandschaft
ein. Ausländische Filme, die synchronisiert wurden, konnten der Verunstaltung
ebenfalls nicht entkommen - und auch filmische Großtaten wurden dadurch
ungenießbar. Für mich blieb das SYNTHETISCHE Neu-Tschechisch immer eine
Kunstsprache.
Als ich
zufällig einmal kurz eine primitive amerikanische Serie in Onkels Fernsehgerät
verfolgte, traute ich meinen Ohren nicht. Die Perversion hatte die nächste
Qualitätsstufe erreicht. Die Synchronsprecher versuchten mit Mitteln des entwurzelten
Tschechisch, sich locker-kraftstrotzend und souverän-freiheitsverwöhnt zu geben
- eben amerikanisch. Ihre Stimmen überschlugen sich regelrecht vor Übermut -
allerdings völlig inadäquat und unlogisch, eben unabhängig vom emotionalen
Gehalt der
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