Faktor, Jan
war, daß an diesen ruhig vorgetragenen Vorwürfen
etwas dran war. Und ich ahnte, daß es mir wahrscheinlich nicht helfen würde,
noch mehr zu wüten. Ich mußte lernen, meinen Ekel zu schlucken - wie nach der
in der Presse publizierten Selbstkritik meines Idols Bohumil HRABAL. Hrabal
hatte sich irgendwannnicht mehr kräftig und gesund genug gefühlt, um wieder als
ein Ausgestoßener existieren zu können, und er hatte sich dem Druck gebeugt.
Pro forma, versteht sich. Seine Selbstkritik wurde in einem betont lockeren,
freundlich geführten Inteview untergebracht. Trotzdem konnte ich die Bücher,
die dann offiziell erscheinen durften, aus Enttäuschung lange Jahre nicht
lesen. Sie waren ohnehin nicht nur zensurbereinigt, sondern auch eigenhändig
von Hrabal entschärft worden.
Die ganze
offizielle Kultur wurde für mich vollständig tabu, die Verlogenheit erfaßte
inzwischen auch den allerletzten Winkel der Gesellschaft. Inzwischen mied ich
auch symphonische Konzerte. Der Dirigent mußte zur Eröffnung des Konzerts zwar
nicht bekennen, er würde die Politik der Partei unterstützen und den Einmarsch
der befreundeten Armeen gutheißen, man wußte aber, daß er eine derartige
Erklärung öffentlich abgegeben haben mußte, wenn er dort stand, wo er stand.
Einmal wollte ich mich über die NEUE GRAUSAMKEIT aber doch informieren und ging
gezielt in ein ideologisch besonders verschrieenes Theater. Dort hatte, wie ich
wußte, ein politisch hartgesottener Regisseur - und nun auch Chef des Hauses -
ein strenges Regime eingeführt. Seine Inszenierung war so grauenhaft, daß auch
bekannte Schauspieler auf der Bühne wie Amateure wirkten. Außerdem gab es
dauernd böse Pannen. Die Kulissenschieber schlampten und brachten zur falschen
Zeit Dekorationen in Bewegung, in anderen Situationen fehlten auf der Bühne die
nötigen Gesprächspartner. Es sah beinah nach Sabotage aus. Das Publikum
amüsierte sich bei dieser Peer-Gynt-Inszenierung köstlich.
Das
eigentliche Erlebnis des Abends lieferte allerdings der Regisseur selbst. Weil
immer mehr Zuschauer vorzeitig flüchteten, entschloß er sich, rigoros
durchzugreifen. Schon eine Weile vor dem Schlußvorhang versuchte er, die
Flüchtenden am Verlassen des Saales zu hindern. Erst versperrte er
vorschriftswidrig von außen einige der Ausgangstüren, mit den Abgefangenen
diskutierte er dann halblaut und schaffte es sogar, einige zur Rückkehr zu
bewegen. Als dann der Vorhang fiel, die Ausgänge entriegelt werden mußten,
stürmten die meisten sofort zu den Türen - natürlich ohne zu applaudieren. Der
Mann hielt es nicht mehr aus und tat das einzige, was ihm übrigblieb: Er
breitete seine Arme aus und stellte sich dem Strom entgegen.
- Nein,
noch nicht! Applaus! schrie er. Es gab noch keinen Applaus!
Als die
Menge versuchte, ihm auszuweichen und eine andere Tür anzusteuern, wechselte er
- seine langen Arme hielt er die ganze Zeit weit ausgestreckt - zum anderen
Ausgang und wiederholte seinen verzweifelten Appell:
- Nein,
jetzt noch nicht! Das ist nicht richtig, das ist nicht fair!
Ostfront,
märz 1944
In einer
der Seitenstraßen vom Altstädter Ring, in der der blinde Klaudius wohnte,
konnte man öfter seinen mit einer großen schwarzen Brille geschmückten Kopf
durch die Menge gleiten sehen. Egal, ob er sich allein auf den Weg gemacht hatte
oder nicht, er blieb nie lange allein. Meist war er von mehreren
gestikulierenden Bekannten und Freunden umgeben, der Schwarm bewegte sich in
der verkehrsberuhigten Zone wie ein Touristengrüppchen. Im Gegensatz zu den
Touristen beachteten diese Leute keine Sehenswürdigkeiten, diskutierten laut,
und ihre Zahl blieb in der Regel nie konstant - manche verabschiedeten sich
zwischendurch, andere kamen hinzu. Kläda alias Klaudius zog mit seiner
körperlichen und geistigen Präsenz einfach Menschen an, sah dabei dank seiner
Größe und seiner auffälligen Brille wie ein Aussichtsturm aus - oder wie das
Periskop eines U-Boots. Von manchen Freunden von früher wurde er »Teiresias«
genannt, er mochte es aber nicht.
- Hört auf
damit, früher war ich schon mal der »Seher der Partei«. Dabei bin ich einfach
nur blind.
In den
fünfziger Jahren war er tatsächlich von einem hohen Parteifunktionär in den
höchsten Tönen gelobt worden: »Genosse Klaudius ist zwar blind, er SIEHT aber -
und besser als viele andere Genossen aus unseren Reihen, er sieht in die
Zukunft!« Aber schon Anfang der sechziger Jahre wurde der große Seher wegen
seiner
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