Faktor, Jan
besonderen
Schlags, wie Väterchen Stalin uns vorsagte - und wir waren auf unseren
vermeintlich neuartigen Fanatismus auch noch stolz. Zum Glück hielt das nicht
lange an. Trotzdem: Dichter wurden hingerichtet oder in den Tod getrieben - und
nicht wenige! -, einfache Existenzen millionenfach kaputtgespielt. Mit uns sind
dünnpfiffige Emotionen durchgegangen, das wollen heutzutage viele nicht mehr
wahrhaben. Auch die ganze nachträgliche Reformiererei in den Sechzigern - alles
Illusion und Unsinn. Aber clever sind die Leute wirklich ohne Ende. In dem
Vorwurf gegen die Dissidenten steckt ein hochintelligenter Dreh. Im Grunde
rechtfertigt man das eigene Stillhalten nicht nur damit, daß man in gewisse
Kreise »nicht reingelassen wurde«, man feiert gleichzeitig so etwas wie seine
angeborene Weisheit - als ob man schonimmer Bescheid gewußt hätte ... Wenn das
aber wieder Schwejkeln sein sollte, dann gute Nacht.
-
Inzwischen kommen sie sich vielleicht noch sauberer vor als du.
- Ich
komme mir überhaupt nicht sauber vor. Ich bin schuldig und bleibe es auch.
Unsere Scheißpartei hat die Leute um die Möglichkeit gebracht, unter normalen
Verhältnissen erwachsen zu werden. Darauf hätten sie aber ein Recht gehabt.
meine
mutter ließ sich seine erinnerungen in ihr schönes ohr flüstern
Da ich
meine Schulfreunde, Freunde aus meiner alten Clique und auch die späteren vom
Gymnasium mied, vereinsamte ich zunehmend und ließ mich bald darauf ein, die
berüchtigten Besuchsgänge meiner Mutter mitzumachen. Sie ging in einem
bestimmten turnusartigen Rhythmus zu allen alten Bekannten der Familie, pflegte
diese unkündbaren Kontakte teilweise seit Jahrzehnten und versprühte dort
gekonnt ihre Lebendigkeit. Diese besondere Dienstleistung wurde inzwischen auch
von ihr erwartet. Von mir - dem Kind - erwartete man dagegen nichts weiter und
konnte zu mir nicht einmal »Georg, bist du aber groß geworden« sagen. Es wäre
sowieso glatt gelogen gewesen. Da ich diese Leute allerdings schon seit der
frühen Kindheit kannte, war es an sich angebracht, daß ich diese Kontakte nicht
ganz einschlafen ließ. Außerdem bestand die Möglichkeit, in ihrem Umfeld
jüngeren weiblichen Wesen zu begegnen.
Manche
dieser alten Leute lebten relativ ärmlich, manche dagegen in ihren alten, vor
dem Krieg herrschaftlich eingerichteten Wohnungen, denen man das Großbourgeoise
sofort ansah. Sie besaßen immer noch prächtige, von angesehenen
Innenarchitekten entworfene Polstergarnituren, zogen sich tadellos an - wenn
auch die Damen des Hauses inzwischen eine längere proletarische Vergangenheit
hinter sich hatten. Manche dieser Bekannten waren Verwandte von weltbekannten Menschen.
Frau S. war die Tochter von Franz Kafkas Lieblingsschwester Ottla, die nächste
Dame war Schwägerin von E. E. Kisch, irgendwer war mit Max Brod verwandt oder
eng befreundet gewesen, der nächste mit der Werfel-Familie, der übernächste
alte Mann war einberühmter Shakespeare-Übersetzer und kannte seit seiner Jugend
sowieso alle und jeden. Einer dieser alten Männer war seit Jahren mit allen
seinen Restkräften dabei, den Ulysses zu übersetzen (»Ich quäle mich damit
immer noch ...«), der nächste war Germanist und Altphilologe und war seit
Jahrzehnten in erster Linie darauf konzentriert, sich von seinen jüdischen
Unzulänglichkeitsgefühlen aufzehren zu lassen. Prag hatte für uns dank dieses
etwas vergreisten Netzwerks etwas übersichtlich Konstantes und Zeitloses, was
vom aktuellen Geschehen in Prag so gut wie abgekoppelt war.
Der
letztgenannte, über achtzigjährige Übersetzer war seit dreißig Jahren leider
nie wirklich gesund, fühlte sich seit über fünfzig Jahren als Dichter nicht
genügend anerkannt und war schon seit seiner Jugend oft depressiv. Meine Mutter
mußte ihn vor allem nach seiner Inhaftierung in den fünfziger Jahren immer
wieder aufmuntern, auch bei unseren aktuellen Besuchen war das die ganze Zeit
ihre Hauptaufgabe. Die Frau des alten Mannes bat sie immer wieder - telefonisch
und heimlich - ausdrücklich darum, ihren Mann bei den Besuchen etwas aufbauen
zu helfen.
- Sie sind
immer so intensiv! Das tut ihm immer gut.
Ihr Mann
war wahrscheinlich der beste tschechische Nachdichter aus dem Deutschen, man durfte
es ihm aber nie so pur sagen. Man hätte damit seine eigentliche Größe als
DICHTER in Frage gestellt. Wenn es doch mal um seine Nachdichtungen ging, war
es unumgänglich, wenigstens einmal das Wörtchen »kongenial« fallenzulassen.
-
Weitere Kostenlose Bücher