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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Neulich
hat ihn einer loben wollen, das war furchtbar. Sagen Sie ihm bitte niemals, daß
er der größte Nachdichter aller Zeiten ist! Er hört daraus sofort das NACH und
NUR heraus.
    Bei den
Begegnungen konnte meine Mutter erzählen, was sie wollte. Dem Alten ging es
dabei trotz seiner abgründigen Untröstlichkeit gleich viel besser. Er hatte als
jungerMensch wild und hoffnungsvoll zu dichten begonnen, schrieb vor allem
Liebes- und Naturlyrik. Nach dem Krieg, den er in England überlebt hatte, war
das Schreiben aber fast ausschließlich zu seiner Privatsache geworden. Daran
sei natürlich auch der rechthaberische Adorno schuld gewesen, klagte er, nicht
nur die Verhältnisse. Trotzdem betrachtete er sich noch dreißig Jahre nach dem
Krieg in erster Linie als ein Dichter. Und es war ratsam, bei dem Besuch eines
seiner Gedichte aus den dreißiger oder zwanziger Jahren zu erwähnen, am besten
gleich irgendwelche besonders gelungenen Stellen zu zitieren. Grundsätzlich
änderte das aber nichts. Für seine Selbstzweifel gab es natürlich einige gute Gründe.
Bei uns zu Hause wurden regelmäßig einige weniger gelungene Stellen aus seinem
Werk zitiert, und wir amüsierten uns über sie gern. Verständigungssprache war
in diesen Fällen notgedrungen Deutsch.
    - Ich
möchte nicht als eine »überreife Frucht« umworben werden, meinte gelegentlich
Tante Erna, obwohl ausgerechnet sie eine solche war.
    - Ich
nicht als »tabuschwere Knospe«.
    »Ich
zermalme dein >Nein< in meiner Gier aus Schleim«, soll er bei einer
Privatlesung mal deklamiert haben. Eventuell wurde ihm die Autorschaft dieser
Zeile von ehemaligen Kollegen aber nur angedichtet. Er hatte vor allem Rilke,
Heine und Schiller übersetzt, Goethe hatte er seinem größten, inzwischen
allerdings verstorbenen Rivalen überlassen müssen.
    Mit meiner
Mutter unterhielt sich der alte Dichter natürlich nur deutsch. Mich quälten
beim Zuhören inzwischen nicht mehr die in den deutschen Sätzen viel zu spät
auftauchenden Verb-Vorsilben, das Hauptproblem war hier das unerträgliche
Flüstern des Alten. Er sprach so leise, daß ich in seiner Wohnung immer das
Gefühl bekam, mich in der Nähe von einsturzgefährdeten Grabstätten zu befinden
- wenn nicht sogar in der Grabesnähe des gerade noch atmenden Gastgebers.
Seltsam war, daß der Mann trotz seines Alters noch ein erstaunlich gutes Gehör
hatte, allerdings der Meinung war, seine Altersschwerhörigkeit würde von Woche
zu Woche schlimmer. Und weil er alle Schwerhörigen und zu laut sprechenden
Menschen haßte, drosselte er aus Vorsicht seine eigene Stimme unverhältnismäßig
und rücksichtslos. - Mit welcher Lautstärke mich alle immer anbrüllen!
    Er selbst
nahm leider an, er würde normal laut sprechen. Dabei kamen aus seinem Mund
meistens nur leise gehauchte Wortschatten - verstärkt höchstens durch
schleimvibrierendes Röcheln. Schon aus der Entfernung von zwei Metern konnte
man ihn kaum hören, verstehen schon gar nicht. Das schaffte allerdings eine
ganz besondere Gesprächsatmosphäre und hatte einen nicht zu vernachlässigenden
Nebeneffekt - meine Mutter mußte im Laufe der Begegnung immer näher an ihn heranrücken.
Er flüsterte seine Erinnerungen - meist immer die gleichen - in ihr schönes Ohr
und verplemperte mit ihnen unsere gemeinsame Gegenwart. Für mich hätte es
verheerende Folgen gehabt, wenn ich mein akustisches Ausgeschlossensein
angesprochen hätte. Erlaubt war nur trübnislose Dankbarkeit.
    Im Grunde
wollte er meine Mutter nur für sich allein haben, ich sollte mich eher mit
seiner zarten, gefährlich dürren, trotzdem immer reizend lächelnden Frau
unterhalten - am liebsten in der kleinen Küche nebenan, in der immer genug zu
tun und zu helfen sei, wie er gern betonte. Wenn ich nicht in der Küche war,
saß ich oft resigniert in einem separaten großen Sessel ein Stück zu weit weg
von den beiden Flüsterturteln und hörte nichts. Die Gattin des Alten interessierte
sich für die tausend Mal wiederholten Geschichten sowieso nicht mehr, und wenn
sie in der Küche fertig geworden war und sich leise zu uns gesellt hatte,
schwieg sie meistens - wie ich auch. Den Monologisierer machte es  sowieso 
unruhig,  wenn  er das  Gefühl  bekam, jemand  strebtedanach,  irgendwelche
konkurrierenden Gesprächsthemen ins Spiel zu bringen. Auf diese Weise erfuhr er
nichts Neues. Seine Frau und ich sahen uns ab und zu in die Augen und schafften
uns nebenbei unser eigenes, noch leiseres Miteinander. Über den

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