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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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Alten wurden
schon immer verschiedene Anekdoten erzählt. Angeblich soll er schon als junger
Mann manchmal so ungewöhnlich leise gesprochen haben, daß er sich selbst nicht
präsent genug vorkam.
    - Was habe
ich gerade gesagt? scherzte er über sich, als es ihm noch möglich war.
    Im Krieg
hatte er in der englischen Armee gedient und mußte dort jahrelang furchtbar
früh aufstehen. Er litt unter der ständigen Müdigkeit, verbrachte angeblich die
ganze Zeit im somnambulen Zustand. Als er einmal vor tschechischen Soldaten
einen Vortrag über deutsche Geschichte halten sollte, sprach er wie aus einem
Traum heraus, leider immer leiser und leiser - bis er bei seinem eigenen
Vortrag einschlief. Diese Geschichte erzählte er sogar einigermaßen laut.
    - Im Raum
wurde es, das bemerkte ich noch, ungewohnt still. Es war kurz nach dem
Frühstück, ich beugte mich über meinen Tisch und schwebte wieder halb in meinen
Träumen. Allerdings wunderte ich mich eine Weile ganz bewußt, wieso die vielen
Männer so ruhig vor mir saßen. Und wieso sie so passiv waren - sie schrieben
nicht, sie lasen nicht, nichts tat sich. Niemand sagte ein Wort, trotzdem
wirkten sie alle wie gebannt, schienen auf etwas zu warten, sahen mich an -
dann kippte ich wahrscheinlich nach vorn.
    Eine
andere Anekdote besagte, daß der junge Dichter damals - immer kurz bevor sein
nächster eigener Gedichtband erscheinen sollte - wie verändert gewesen sei.
Seine Körperhaltung soll eine andere gewesen sein, er soll größer und
muskulöser gewirkt haben. Und als der Band dann herauskam, hätte er eine
Zeitlang doppelt so laut wie üblich gesprochen.Ich hätte bei den Besuchen
eigentlich auch gern mitgeredet, um mein Deutsch aufzubessern, dazu kam es aber
fast nie. Ich langweilte mich und spielte nebenbei wenigstens mit der feinen
Oberfläche des plüschigen Lehnstuhls, in dem ich saß. Die Härchen schimmerten
teilweise ganz hell; wenn man sie mit der Hand in die andere Richtung strich,
wurden sie wieder dunkel. Das alles spielte sich in den schönsten
Bordeaux-Tönen ab. Bei uns zu Hause gab es keine Plüschmöbel. Plötzlich
donnerte mich eine laute Stimme wie vom Himmel an, eine Stimme, die ich so
nicht kannte. Der Dichter konnte offensichtlich auch ganz anders:
    -
Verschmierst du dort unsere Schlagsahne, Georg?
    Als wir
einen Bekannten auf seiner neuen Arbeitsstelle - ABSCHIEBESTELLE, wie er sagte
- besuchten, bestätigte sich mir einmal, wie wahr - oder fast wahr - alle
abgedroschenen Redewendungen sein können. Konkret ging es um eine besondere Art
der Tränenausscheidung. Ich ging auf die Hinterhof-Toilette der schmuddeligen
Büros, und im Vorraum, in dem ich mich entscheiden sollte, welchem Geschlecht
ich angehörte, waren auf den Klotüren keine Buchstaben, keine Symbole
angebracht, sondern Pin-up-Bilder: Auf der einen ein wunderschöner junger Mann
mit entblößtem Oberkörper und einer Zigarre im Mund, auf der anderen eine
Göttin in Bikini. Als ich die stolze weibliche Traumfigur sah, schossen mir die
Tränen nicht IN DIE AUGEN, sondern regelrecht AUS DEN AUGEN heraus - wie zwei
kleine Geysire. Ich stand da und wußte absolut nicht, welche Tür ich ansteuern
sollte. Allerdings waren mir Zweifel vor derart verwirrend bebilderten Klotüren
überhaupt nicht neu. Instinktiv zog es mich natürlich immer zu den Frauen - eben
dorthin, wo diese sich oft in Scharen aufhielten und einzeln ihre Höschen
herunterzogen.
    Vieles war
- wie gesagt - wie früher, fast wie in der Kindheit, trotzdem grundsätzlich
anders. Ich kannte meine Mutter inzwischen recht gut, und das relativ
unkindlich. Und wie ich eines Tages erfuhr, kannte ich sie sogar wesentlich
besser als ihr Liebhaber, obwohl dieser mit ihr - als seiner Zweitfrau -
inzwischen mehr als zehn Jahre liiert war. Meine Mutter hatte einiges über sich
einfach nie verraten. Und ihr Freund sah keinen Grund dazu, danach zu forschen.
Von ihren Depressionen, Überforderungsängsten und Minderwertigkeitsgefühlen
hatte er keinen blassen Schimmer. Sie konnte alle ihre zusammenfaltbaren Makel
meisterhaft überstrahlen. Ihren Freund nannte sie sicherheitshalber ironisch »mein
Herr«.
    - Wie es
mir gestern ging, muß mein Herr nicht wissen. Es reicht, daß du alles
mitbekommst. Ihre wichtigste Weisheit über Depressionen lautete sowieso:
    - Eine
Depression kommt und verschwindet wieder von alleine.
    In dieser
Zeit starb mein Vater, den ich tatsächlich nicht selbst umbringen mußte. Daß er
nicht lange leben würde, war

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