Faktor, Jan
aus.
- Ich
wollte nie wieder einen solchen Hunger haben, sagte meine Mutter. Der Hunger
war im Lager das Schlimmste, für mich sogar schlimmer als die Wanzen.
Auf der
großen Freßfläche war es zwar erschreckend still, eine dumpf aufgepeitschte
Spannung verbreiteten die Beteiligten aber trotzdem. Alle warteten auf irgend
etwas, nicht nur auf ihr Essen, hatte ich den Eindruck. Vielleicht wollten sie
doch etwas anders leben und auch vollkommen anders abgefüttert werden - und die
meisten wußten sicher, daß man theoretisch auch etwas würdiger bewirtet werden
konnte. Aber sie warteten trotzdem wie eine Zuchtherde, die sich in ihr
Schicksal seit Generationen gefügt hatte. Wohin, also in welche Kanäle diese
Menschen ihre Spannungen ableiteten, war mir unklar. Vielleicht wandelten sie
ihre innere Geladenheit direkt in kompakten Schenkelspeck um.
Endlich
erschienen in der Tür zur Küche zwei neue Kellner - gleichzeitig, wie vom
sozialistischen Himmel geschickt, konnte man meinen. Offenbar war ihre Eß- oder
Rauchpause zu Ende gegangen. Diese beiden machten sich an die Arbeit, die
Kellnerin mit dem stolprigen Gang und ihr strenggesichtiger
Leuchtpistolenkollege verschwanden wieder - und waren in dieser Phase der
Gästebekämpfung längere Zeit nicht zu sehen. Aber selbst wenn vier fleißige
Kellner gleichzeitig im Einsatz gewesen wären, wären sie immer noch viel zu
wenige gewesen. Nachdem in der Nähe der Eingangstür, vor der wir standen, ein
Tisch beliefert worden war, konnten wir sehen, was man hier zum Sattwerden
bekommen konnte. Und glaubten unseren Augen nicht.- Was tun sich die Leute hier
schon wieder an? fragte meine Mutter trotz ihres Hungers mitleidig.
Die
ostdeutschen Teller waren riesig, größer als die größten tschechischen. Und sie
waren hochbepackt mit Unmengen von kaloriengeladenen Substanzen. Als erstes
fielen uns riesige Portionen Fleisch und Sauerkraut auf. Das bestimmt dank
Schweineschmalz glänzende Sauerkraut war zusätzlich mit vielen Speckgrieben
verziert. Neben dem Krautgebiet lagen noch Berge von Rotkohl - ROH!, Berge von
Weißkohl - ebenfalls ROH!, ein riesiger Haufen zerkochter Kartoffeln fand auf
den Tellern auch noch genügend Platz. Außerdem breiteten sich auf den Tellern
solche Mengen einer tiefbraunen Soße aus, daß die vielen eßbaren Inseln zu
schwimmen schienen. Auf dem Kartoffelhaufen thronte zusätzlich ein etwa fünfzig
Gramm schweres Stück Butter. Wie wir da und dort bereits erspähen konnten, aß
man hier im Vorfeld grundsätzlich noch eine gehaltvolle Suppe - eine rötlich
dickflüssige Abart eines Suppengulaschs mit Fleisch-, Wurst- und Gurkenstücken,
auf dessen Oberfläche hohe Sahnehäubchen schwammen. Die meisten dieser Esser in
Warteschleife hatten sie sicher schon weggelöffelt und dazu zwei angekohlte
Toastbrot-Dreiecke gegessen, an manchen Tischen wurden diese allerdings noch
zurückgehalten. Die Leute hatten sich also schon anfangs - und alles andere als
schmalhansig - stärken können. Den in einem extra Schüsselchen servierten
Einheits-Salat, der höchstwahrscheinlich wieder nur aus geraspeltem und etwas
abgeschmecktem Weißkohl bestand, hatten die meisten auch schon verputzt.
Vielleicht fühlten sich einige dieser Egal-was-Verputzer damit schon
einigermaßen abgefüllt und wären am liebsten nach Hause geflüchtet, wenn sie
sich das getraut hätten. Hätten es ihnen die anderen anwesenden Eßkader, also
die auf Einheit, Gleichheit und Brüderlichkeit - DRUSCHBA! - eingeschworenen
Instanzen aber erlaubt? Und was ganz bestimmt auch nicht gestattet war: den
Nicht-jedermannsSache-Weißkohlsalat samt Schüsselchen an die stellenweise
undichten, mit Sauerkrautplatten wärmeisolierten Außenwände zu werfen.
Jedenfalls sah man den tapferen Männern und Frauen an, daß sie litten - und wer
weiß, wie lange schon; wie lange an diesem Tag, wie lange überhaupt. Also seit
welcher Lebensminute nach ihrer Geburt.
Diejenigen,
die ihr Hauptessen vorgesetzt bekommen hatten, arbeiteten sich auf ihren
rundtablettgroßen Tellern langsam, aber konsequent durch. Sie gingen offenbar
nur selten aus und wollten ihre im Grunde amtlich bemessenen und ihnen
gnadenlos zugeteilten Portionen bestimmt auch aus Pflichtgefühl vertilgen - und
vor ihren härtegeprüften Mitmenschen sowieso keine Schwäche zeigen. Außerdem
hatten sie sich den Tisch hundertprozentig mit viel Geduld erkämpft und hatten
davor eine Ewigkeit in der Schlange gestanden! Eine Tischgemeinschaft in der
Nähe
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