Faktor, Jan
selbst,
er schoß in seinem Leben gnadenlos auch einiges an Kleinvieh ab, schoß in
meinem Beisein sogar einige Hasen lebensgefährlich an - diese konnte er dann
ohne einen Jagdhund allerdings nicht verfolgen. Mit den noch kleineren Tieren
ging es etwas besser, und so wäre er theoretisch doch in der Lage, mich in der
freien Wildbahn zu ernähren. Einmal killte er ein Eichhörnchen zum Abendbrot
und briet das zarte Tier in der Öffnung eines Kohlenofens, bis es tiefschwarz
war. Nach diesem Urlaub in der wunderschönen und naturgeschützten Wildnis bekam
ich von ihm ein echtes Luftgewehr geschenkt. Die Durchschlagkraft meiner
Bleikugeln reichte leider absolut nicht für irgendwelche finalen Tötungsakte.
Ich konnte gerade mal Singvögel kurz betäuben, falls ich sie zufälligerweise
direkt am Kopf traf.
Die
Vereinbarung zwischen meinen Eltern sah vor, daß ich meinen Vater jedes
Wochenende besuchen sollte. Daß ich mich dieser verhaßten Pflicht irgendwann
hätte widersetzen können, kam mir überhaupt nicht in den Sinn. Ich versuchte
nicht einmal, mit meiner Mutter darüber zu sprechen. Vielleicht auch aus
Rücksicht auf ihre Wochenendruhe, die sie seit ihrer überstandenen TBC
unbedingt nötig hatte. Sie war sowieso nie sehr belastbar. Ihr Freund hatte an
den Wochenenden in der Regel familiäre Pflichten, sie konnte sich
ausschließlich ihrer eigenen Regenerierung widmen.
Zu meinem
Vater trieb mich also einerseits die Rücksicht auf meine Mutter, andererseits
das mir vorschwebende Gebot, meinen Vater auf keinen Fall verletzen zu dürfen.
Außerdem lauerte auch eine Art diffuser Furcht in mir. Ohne mich wäre mein
Vater ohne Halt, seine Wochenenden wären ohne mich vollkommen leer - und eines
Tages hätten sie eventuell böse enden, hätten sogar in einem Amoklauf in
Wild-Ost-Manier gipfeln können. Mir war, als ob ich in Vaters explosiver Hölle
dringend gebraucht würde. Also fuhr ich jedes Wochenende zu ihm - in der
Hoffnung, mein Vater würde sich noch eine Weile über Wasser halten. Aus Angst
vor den dort zu erwartenden Peinlichkeiten wurde ich schon unterwegs immer
unsicherer. Je näher ich dem Plattenbaughetto kam, desto verstockter wurde ich
und riegelte mich ab. Als ein pädophiler junger Mann, der in der Straßenbahn
neben mir saß, mir unter meiner auf den Schenkeln liegenden Tasche an die Eier
ging, reagierte ich nicht.
- Fühlst
du nichts? fragte er mich neugierig und überaus freundlich. Wie heißt du denn?
- Georg. Er spielte weiter mit meinem weichen und auch verschreckten Penis in
meiner kurzen Hose, und mir war vollkommen unklar, was sich zu seinem sicher
nett gemeinten Getue sagen ließe. Von solchen Dingen hatte ich noch nie etwas
gehört. Bloß nicht auffallen, dachte ich bei mir - und blieb ruhig. Über den
Vorfall erzählte ich natürlich nichts, und weil Vaters Wohnung sowieso voller
unausgesprochener Dinge war, fiel es gar nicht auf, wie verschreckt ich
angekommen war. Als ich ein anderes Mal einem neugierigen Straßenbahnschaffner
erklären sollte, wieso ich zu meinem Vater fuhr, war ich auch etwas überfordert.
- Die
Eltern sind also geschieden.
- Nein,
sind sie nicht.
- Wieso
wohnt dein Vater aber woanders?
- Er hat
eben eine andere Frau.
Vor dem
Wort »Scheidung« hatte ich eine Heidenangst. Offensichtlich auch meine Mutter,
die nie von so etwas Schändlichem wie einer Scheidung gesprochen hatte. Als ob
das pure Benennen dieser unbestreitbaren Tatsache so etwas wie eine
gesellschaftliche Exkommunikation zur Folge hätte haben können. Nachdem mich
meine Mutter mit gedämpfter Stimme irgendwann später aufgeklärt hatte, fragte
ich erschrocken, ob meine vielen Tanten über diese Scheidung Bescheid wüßten.
Zu diesem Zeitpunkt lag diese Lappalie schon etwa zehn Jahre zurück.
Wenn ich
unterwegs zu meinem in einem geheimnisumwitterten Trennungszustand lebenden
Vater war, wollte ich aus guten Gründen niemanden treffen. Ich fuhr für dreißig
Heller quer durch die Stadt und zitterte vor Angst, irgendein Mitschüler könnte
mich von außen erblicken oder sogar in den gleichen Wagen einsteigen und mich
zur Rede stellen. Deswegen hatte ich immer etwas zu Lesen dabei, und ich las
und las und las. Und wenn mich zufällig irgendein Idiot aus meiner Klasse
ansprach, las ich weiter. Ich sagte ihm nur kurz, ich müsse etwas zu Ende
lesen, und ließ ihn einfach neben mir stehen. An den Wochenenden war ich im
Prinzip ganz gern allein. Das Gute bei meinem Vater war, daß dort im Grunde
alle
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