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Faktor, Jan

Faktor, Jan

Titel: Faktor, Jan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Georgs Sorggen um die Vergangenheit
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doch bewußt in mir regte, nach außen zu kehren. Und ich
durfte es auch auf keinen Fall tun, nicht einmal eine unfröhliche Andeutung
davon sollte nach außen dringen. Ich schaffte es als Kind - unzählige Jahre,
einfach so lange, bis die Dinge nicht mehr aktuell waren und bis aus ihnen
Scherze geworden waren -, auch enorm wichtige Wünsche und enorm wichtige
Forderungen zu unterdrücken; falls ich überhaupt wußte, was ich mir hätte
wünschen oder was genau ich hätte fordern sollen.
    Erst
nachdem ich meine saftige Schambegabung entdeckt hatte, wurde mein Innenleben
etwas greifbarer. Meine Scham darüber, wer ich eventuell war, brachte die
geistige Wende. Was mit meiner Scham belegt war, begann ich mir konsequent zu
merken und versuchte, es nicht nur roh zu speichern, sondern es auch
ansatzweise zu deuten. Schämen konnte ich mich immer besser, zum Glück wieder
vollprofessionell und unauffällig.
    Mein Leben
wurde für mich irgendwann zur Hölle, und ich wußte genau, wo sich in Prag der
Einstiegsbereich zur Hölle befand. Wenn man das Tor der berüchtigten
psychiatrischen Klinik von Prag-Bohnice passiert hatte, konnte man sich nicht
mehr verlaufen. Der Eingang zur Hölle befand sich irgendwo im Haus drei oder
vier. Nachdem ich in der Grundschule überraschend einmal eine Fünf im Diktat -
also ungenügend - bekommen hatte, sagte zu mir ein Mitschüler, der später
Spitzenkoch in einem Hotel auf dem Wenzelsplatz wurde:
    - Wenn es
mit dir so weitergeht, Georg ...
    Weil ich
mit meiner Mutter manchmal Bekannte besuchen mußte, die in der Irrenanstalt von
Bohnice festsaßen, wußte ich tatsächlich, wohin man sich als eine gescheiterte
Existenz zu wenden und wohin man unter Umständen zu verschwinden hatte.
Beruhigend war dabei, daß der dortige Chefarzt zum Bekanntenkreis meiner Mutter
gehörte.Meine Talfahrt setzte nicht gleich nach dem mißglückten Diktat ein,
viele Jahre später kam sie aber tatsächlich und vollkommen folgerichtig in Gang.
Diese Talfahrt hatte viele Phasen, hinterließ einige gruselige
Sedimentschichten - und ich konnte, wenn ich wollte, jederzeit auf sie
zurückblicken. Die Entdeckung meiner tiefsitzenden Unsicherheit fiel
ausgerechnet in die glückliche Blütezeit meiner Clique. Meine Verzweiflung
darüber meldete sich erst vorsichtig an, ich begann aber allmählich zu ahnen,
daß sie nicht dabei war, gleich wieder abzutauchen oder zu schrumpfen, sondern
vielmehr ins Kraut zu schießen. Mein unsicherer Seelendreck machte sich in mir
besonders dann breit, wenn ich meine so souveräne und mich schützende Bande
nicht um mich hatte, wenn ich also auf den Straßen und Plätzen meiner schönen
Stadt auf mich allein gestellt war. Zum Auslösen einer Verzweiflungsattacke
reichte dann irgendeine komplizierte Begegnung oder Begebenheit. Warum mußte ausgerechnet
ich miterleben, wie eine Frau wegen zwei Melonen auf die Pflastersteine
umgehauen wurde? Warum mußte ausgerechnet ich dazu begabt sein, Menschen, die
ich traf, so aufzuweichen und aus ihnen IHRE hartnäckigsten Unsicherheiten so
gnadenlos herauszukitzeln, daß sie sich möglicherweise silagieren lassen
wollten? Dabei hatte ich sie oft kurz zuvor noch beobachtet, wie sie mit
anderen gescherzt und gelacht hatten - in meinem Beisein stotterten sie dann
plötzlich, wurden rot, kippten ihre Augen pausenlos nach unten, verstummten
schließlich wie abgewürgte Pulsadern und überließen es mir, mich für ihr
Unglück schuldig zu fühlen. Schon während der gemeinsamen Quälerei haßte und
verfluchte ich mich, ließ braune Kröten aus den verrücktesten Verstecken wie Helikopter
aufsteigen, schoß gnadenlos Kanonenkugeln auf unschuldige Dritte ab und federte
den Rückstoß mit meinem flachen Brustkorb ab. Offenbar forderte ich von mir und
von meinen Begegnungspartnern eine Art von Ehrlichkeit, die einige
verschorfte.normalerweise ausreichend geschützte Grundwunden zum Platzen
brachte. Nebenbei spürte ich die ganze Zeit, wie sich in meinem Schlund zäher
Schleim sammelte - so daß in mir schließlich auch eine fette Kröte festsaß.
Eine Kröte, die sich dringend auf eine Flugbahn - eine eher ballistische -
begeben wollte, um sich ihren feuchtbodenstämmigen Verwandten anschließen und
sich mit ihnen paaren zu können. Wenn ich wieder allein war, beneidete ich
beispielsweise ebenmäßige Grasflächen um ihre natürliche Stille - was noch die
friedlichste aller möglichen Abschlüsse, die idealste aller zu phantasierenden
Auslaufzonen war.
    Anfangs

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