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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Und Erbarmen und Eigenliebe werden dein Herz aufbrechen, sodass es bei der ersten Geste der Güte – sagen wir, einer Decke oder einem Schluck Wein – überfließt und dir die Zunge löst. Hinaus strömen die Worte. Du bist nicht in diesen Raum gebracht worden, um zu denken, sondern um zu empfinden. Und am Ende hast du zu viel für dich selbst empfunden.
    Aber Mark wird das erspart bleiben, denn jetzt schaut er auf: »Master Sekretär, können Sie mir noch einmal sagen, wie mein Geständnis aussehen soll? Klar und … was noch? Es waren vier Dinge, aber ich habe sie bereits wieder vergessen.« Er steckt im Dickicht der Worte fest, und je mehr er kämpft, desto tiefer treiben die Dornen in sein Fleisch. Wenn es angebracht ist, kann eine Übersetzung für ihn erfolgen, doch sein Englisch schien immer gut genug. »Aber Sie verstehen doch, Sir, dass ich nichts sagen kann, was ich nicht weiß?«
    »Das können Sie nicht? Dann müssen Sie heute Nacht mein Gast sein. Christophe, ich denke, da kannst du helfen. Morgen früh, Mark, werden Sie von Ihren eigenen Fähigkeiten überrascht werden. Ihr Kopf wird klar sein und Ihr Gedächtnis vollkommen. Sie werden sehen, dass es nicht in Ihrem Interesse liegt, Gentlemen zu schützen, die wie Sie gesündigt haben. Wenn diese Männer an Ihrer Stelle wären, glauben Sie mir, sie würden keinen Gedanken an Sie verlieren.«
    Er sieht zu, wie Christophe Mark bei der Hand nimmt und wegführt, wie man einen Simpel wegführen würde. Er winkt Richard und Nennt-Mich zu, sie sollen essen gehen. Er hatte vorgehabt, mit ihnen zu essen, doch jetzt mag er nichts, höchstens etwas, was er als Junge gegessen hat, einen einfachen Portulaksalat, die Blätter morgens gepflückt und in ein nasses Tuch gewickelt. Damals hatte er ihn gegessen, weil es nichts Besseres gab, und der Salat hat seinen Hunger nicht gestillt. Jetzt reicht er ihm. Als der Kardinal fiel, hat er, Cromwell, vielen der armen Bediensteten eine Stelle besorgt und einige zu sich genommen. Wäre Mark weniger unverschämt gewesen, hätte er ihn vielleicht auch aufgenommen. Dann wäre der Junge nicht so am Ende. Seine Allüren wären großzügig verlacht worden, und er hätte die Zeit gehabt, ein Mann zu werden. Sie hätten ihn mit seinem Können an andere Haushalte verliehen, und er hätte gelernt, seinen Wert einzuschätzen und seine Zeit zu nutzen. Hätte gelernt, Geld zu verdienen und sich damit eine Frau zu suchen – statt seine besten Jahre damit zuzubringen, sich vor den Gemächern der Frau des Königs herumzudrücken, sich von ihr beim Ellbogen fassen und eine Feder vom Hut stehlen zu lassen.
    Um Mitternacht, als das Haus längst schläft, kommt eine Nachricht vom König: Henry sagt den für diese Woche geplanten Besuch in Dover ab. Die Turnierkämpfe werden jedoch stattfinden. Norris ist mit dabei und George Boleyn. Sie sind in zwei gegeneinander antretende Mannschaften gelost worden, einer zu den Herausforderern, einer zu den Verteidigern: Vielleicht werden sie sich gegenseitig ramponieren.
    Er schläft nicht. Seine Gedanken rasen. Er denkt: Niemals habe ich aus Liebe eine Nacht wach gelegen, obwohl die Dichter sagen, dass das dazugehört. Im Moment liege ich aus dem gegenteiligen Grunde wach. Aber nein, er hasst Anne nicht, sie ist ihm gleichgültig. Er hasst nicht einmal Francis Weston, nicht mehr, als man eine Stechmücke hasst; man fragt sich nur, weshalb sie geschaffen wurde. Er bemitleidet Mark, doch dann denkt er: Wir betrachten ihn als einen Jungen – als ich so alt war wie Mark heute, hatte ich bereits das Meer und die Grenze Europas überquert. Hatte schreiend in einem Graben gelegen, mich hinausgehievt und das Weite gesucht. Zweimal bin ich davongelaufen, einmal vor meinem Vater und einmal vor den Spaniern, auf dem Schlachtfeld. Als ich so alt war wie Mark heute oder Francis Weston, hatte ich mich bereits in den Häusern der Portinari und Frescobaldi hervorgetan, und lange bevor ich das Alter George Boleyns erreichte, habe ich für sie im europäischen Handel gearbeitet. In Antwerpen habe ich Türen eingerissen und bin als ein anderer nach England heimgekehrt. Ich hatte meine Sprache erneuert und beherrschte sie, meine Muttersprache, gänzlich unerwartet und zu meiner Freude besser denn je. Ich empfahl mich dem Kardinal, heiratete und bewies mich vor Gericht, wo ich den Richtern zulächelte und plädierte – meine Kenntnisse hinkten meinen Worten hinterher –, und die Richter waren so glücklich über mein

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