Falken: Roman (German Edition)
besteht darin, dass ein König, der an gewöhnlichen Tischen sitzt, auf gewöhnlichen Stühlen, für einen gewöhnlichen Mann gehalten werden kann. Henry ist aber nicht gewöhnlich. Was, wenn sein Haar lichter wird und sein Bauch größer? Kaiser Karl würde eine ganze Provinz dafür geben, beim Blick in den Spiegel das Gesicht des Tudors zu sehen und nicht sein eigenes schiefes Antlitz mit der Hakennase, die ihm fast bis zum Kinn reicht. König François, diese Bohnenstange, würde seinen Dauphin versetzen, um Schultern wie der König von England zu haben. Alle guten Eigenschaften, die diese Männer haben, finden sie in Henry doppelt wieder. Wenn sie sich mit etwas auskennen, kennt er sich doppelt so gut aus. Sind sie gnädig, ist er die Gnade in Person. Sind sie ritterlich, ist er das Muster von Ritterlichkeit, wie es im größten Buch über Ritter, das man sich vorstellen kann, beschrieben wird.
Trotzdem: In den Wirtshäusern Englands geben sie dem König und Anne Boleyn die Schuld am Wetter: der Konkubine, der großen Hure. Wenn der König seine ihm rechtmäßig angetraute Frau Katherine zurücknähme, würde der Regen aufhören. Und wer kann bezweifeln, dass alles anders und besser wäre, würde England nur von Dorftrotteln und ihren betrunkenen Freunden regiert?
Langsam bewegen sie sich zurück nach London, damit der König erst ankommt, wenn die City frei von jedem Pestverdacht ist. In kalten Votivkapellen, unter den starrenden Blicken schielender Jungfrauen, betet der König allein für sich. Er, Cromwell, mag es nicht, dass Henry allein betet. Er will wissen, wofür er betet. Sein alter Meister, Kardinal Wolsey, hätte es gewusst.
Seine Beziehungen zur Königin sind, da sich der Sommer dem offiziellen Ende zuneigt, spärlich, unsicher und voller Misstrauen. Anne Boleyn ist jetzt vierunddreißig Jahre alt, eine dunkle Frau von einer Vornehmheit, die bloße Schönheit überflüssig macht. Einst geschmeidig, ist sie hager geworden. Ihr dunkles Glitzern besitzt sie noch, leicht abgenutzt und hier und da etwas schuppig. Ihre markanten dunklen Augen weiß sie wirkungsvoll einzusetzen: Sie sieht in das Gesicht eines Mannes, und schon gleitet ihr Blick weiter, gleichgültig, uninteressiert. Es entsteht eine Pause, vielleicht von einer Atemlänge. Dann, langsam, wie unter Zwang, wendet sie den Blick zurück. Sie sieht in sein Gesicht. Sie studiert diesen Mann. Sie studiert ihn, als wäre er der einzige Mann auf der Welt. Sie betrachtet ihn, als sähe sie ihn zum ersten Mal und überlegte sich alle möglichen Verwendungsmöglichkeiten für ihn, an die er selbst nie gedacht hat. Für ihr Opfer scheint dieser Moment eine Ewigkeit zu dauern, während der ihm Schauer über den Rücken fahren. Obwohl der Trick tatsächlich so schnell und billig wie wirksam und wiederholbar ist, scheint der arme Kerl nun aus allen anderen herausgehoben. Er grinst. Er ist stolz und wird ein Stück größer. Und etwas dümmer.
Er hat gesehen, wie Anne den Trick bei Adligen und gemeinen Bürgerlichen angewandt hat, sogar beim König selbst. Du siehst, wie sich der Mund des Mannes leicht öffnet und er zu ihrer Kreatur wird. Es funktioniert fast immer, bei ihm jedoch nicht. Er ist Frauen gegenüber nicht uninteressiert, Gott weiß das, nur Anne Boleyn interessiert ihn nicht. Das ärgert sie maßlos. Er hätte so tun sollen, als ob. Er hat sie zur Königin gemacht, sie ihn zum Minister, doch das Verhältnis zwischen ihnen ist unsicher geworden, beide sind wachsam und achten aufmerksam auf einen möglichen Ausrutscher, der die wahren Gefühle des anderen preisgeben und damit einen Vorteil bedeuten könnte: als böte allein Heuchelei Sicherheit. Aber Anne ist nicht gut im Versteckspiel. Sie ist der quecksilbrige Schatz des Königs und schlittert und rutscht zwischen Wut und Lachen hin und her. In diesem Sommer hat sie ihm hinter dem Rücken des Königs verschiedentlich zugelächelt oder auch mit einer Grimasse bedeutet, dass Henry schlechter Laune sei. Dann wieder hat sie ihn völlig ignoriert, ihm die kalte Schulter gezeigt und ihre schwarzen Augen auf anderes im Raum gerichtet.
Um das zu verstehen, so es denn zu verstehen ist, müssen wir zurück ins letzte Frühjahr gehen, als Thomas More noch lebte. Anne hatte ihn, Cromwell, zu sich gerufen, um über Diplomatie zu reden: Es ging um einen Ehevertrag, einen französischen Prinzen für ihre kleine Tochter Elizabeth. Die Franzosen erwiesen sich bei den Verhandlungen als launisch. Tatsächlich
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