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Falken: Roman (German Edition)

Falken: Roman (German Edition)

Titel: Falken: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Mantel
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Jahren, und die Ernte wird erneut dürftig ausfallen. Der Weizenpreis soll der Voraussage nach um zwanzig Schillinge pro Quarter steigen. Was wird der Arbeiter also in diesem Winter tun? Der Mann, der fünf oder sechs Pence am Tag verdient? Die Profiteure sind längst am Werk, nicht nur auf der Isle of Thanet, sondern in allen Grafschaften. Seine Männer haben die Fährten aufgenommen.
    Es überraschte den Kardinal immer, dass ein Engländer einen anderen aushungern konnte, um daran zu verdienen. Aber er, Cromwell, sagte darauf: »Ich habe einen englischen Söldner gesehen, der seinem Kameraden die Kehle durchschnitt, die Decke unter ihm wegzog, während er noch zuckte, seine Taschen durchsuchte und ihm ein heiliges Medaillon und sein Geld stahl.«
    »Ah, Söldner sind gedungene Mörder«, sagte der Kardinal. »Solche Männer haben keine Seele zu verlieren. Aber die meisten Engländer fürchten Gott.«
    »Das glauben die Italiener nicht. Sie sagen, der Weg zwischen England und der Hölle ist ausgetreten von zahllosen Füßen und führt immer nur bergab.«
    Täglich grübelt er über seine rätselhaften Landsleute nach. Er hat Mörder gesehen, ja, aber auch einen hungrigen Soldaten, der einer Frau einen Laib Brot schenkte, einer Frau, die ihm fremd war und von der er sich gleich darauf mit einem Achselzucken abwandte. Es ist besser, die Menschen nicht zu versuchen, sie nicht in die Verzweiflung zu zwingen. Lass sie gedeihen, aus dem Überfluss heraus werden sie großzügig. Volle Bäuche mehren die guten Sitten. Das Beißen des Hungers schafft Ungeheuer.
    Als der reisende Hof einige Tage nach seinem Zusammentreffen mit Stephen Gardiner in Winchester eintraf, waren in der Kathedrale gerade neue Bischöfe geweiht worden. »Meine Bischöfe«, nennt Anne sie: Erweckungsprediger, Reformer, Männer, die in Anne eine Gelegenheit sehen. Wer hätte gedacht, Hugh Latimer könnte Bischof werden? Dem hätte man eher vorausgesagt, er werde auf dem Scheiterhaufen enden, in Smithfield zu Asche werden, das Evangelium auf der Zunge. Sicher, aber wer hätte gedacht, dass aus Thomas Cromwell einmal etwas würde? Als Wolsey fiel, hätte man annehmen sollen, dass er als dessen Diener ruiniert wäre, und als seine Frau und seine Töchter starben, dass der Verlust ihn umbringen würde. Aber Henry wandte sich ihm zu. Henry schwor ihn auf sich ein, nahm sich Zeit für ihn und sagte, kommen Sie, Master Cromwell, nehmen Sie meinen Arm: durch Höfe und Thronsäle; heute ist sein Lebensweg eben und klar. Als junger Mann musste er sich immer durch Mengen drängen und nach vorne schieben, um das Spektakel zu sehen. Heute zerstreuen sich die Leute, wenn er durch Westminster oder die Umgebung eines der Königspaläste geht. Seit seiner Vereidigung als Rat werden Hindernisse, Kisten und herrenlose Hunde aus seinem Weg geräumt. Seit er Master of the Rolls ist, hören die Frauen auf zu flüstern, wenn er sich nähert, ziehen sich die Ärmel herunter und schieben die Ringe an ihren Fingern zurecht. Küchenabfälle, Bürodurcheinander und die Schemel der Geringen werden in die Ecken und außer Sicht getreten, seit er der persönliche Sekretär des Königs ist. Und niemand bis auf Stephen Gardiner verbessert sein Griechisch: jetzt nicht mehr, da er auch Kanzler der Universität Cambridge ist.
    Henrys Sommer war, alles in allem betrachtet, ein Erfolg: In Berkshire, Wiltshire und Somerset hat er sich den Leuten auf der Straße gezeigt, und sie warteten auf ihn (wenn es nicht gerade wie aus Kübeln schüttete) und jubelten ihm zu. Warum sollten sie auch nicht? Wer Henry sieht, muss staunen. Immer wieder aufs Neue begeistert er einen, als wäre es das erste Mal: dieser massige Mann, stiernackig, mit zurückweichendem Haar und dem fleischiger werdenden Gesicht, die Augen blau, und der kleine Mund, der fast scheu wirkt. Er ist einen Meter neunzig groß, und jeder Zentimeter gibt Zeugnis seiner Macht. Seine Haltung, seine Erscheinung sind großartig, seine Wutausbrüche furchterregend, seine Schwüre und Flüche, seine heißen Tränen. Doch es gibt Momente, in denen sich sein mächtiger Körper streckt und lockert und seine Miene frei wird. Dann setzt er sich zu dir auf eine Bank und spricht mit dir wie ein Bruder. Wie es ein Bruder tun könnte, wenn du einen hättest. Oder sogar ein Vater, einer von der idealen Sorte: Wie geht es dir? Du arbeitest doch nicht zu schwer? Hast du schon gegessen? Wovon hast du letzte Nacht geträumt?
    Die Gefahr eines solchen Zuges

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