Falken: Roman (German Edition)
sich hinaus. Er bemitleidet sie. Sie kämpft mit den Waffen einer Frau, sonst hat sie nichts. Im Vorraum zu ihrem Empfangszimmer ist allein Lady Rochford. »Weint sie noch?«, fragt sie.
»Ich denke, sie hat sich gefasst.«
»Sie verliert ihr gutes Aussehen, meinen Sie nicht? War sie in diesem Sommer zu viel in der Sonne? Sie bekommt die ersten Falten.«
»Ich sehe sie nicht an, Mylady. Nun, nur so, wie es ein Untergebener sollte.«
»Oh, ist das so?« Sie ist amüsiert. »Dann sage ich es Ihnen. Man sieht ihr jeden einzelnen Tag ihres Lebens an und mehr. Gesichter entstehen nicht zufällig. Unsere Sünden schreiben sich in sie ein.«
»Großer Gott! Was habe ich getan?«
Sie lacht. »Mr Sekretär, das würden wir alle gern wissen. Aber vielleicht stimmt es auch nicht immer. Mary Boleyn, so höre ich, erblüht draußen auf dem Land wie der Monat Mai. Hübsch und rund ist sie, heißt es. Wie ist das möglich? Ein loses Weibsbild wie Mary, das durch so viele Hände gegangen ist, dass Sie keinen Stallburschen mehr finden werden, der sie nicht gehabt hat. Aber stellen Sie die beiden nebeneinander, und es ist Anne, die – wie würden Sie es nennen? – stark benutzt aussieht.«
Plaudernd strömen die anderen Ladies herein. »Haben Sie sie allein gelassen?«, sagt Mary Shelton: als sollte Anne nicht allein sein. Sie rafft die Röcke und huscht ins Empfangszimmer.
Er verabschiedet sich von Lady Rochford, aber etwas zieht an seinen Beinen, hält ihn auf. Es ist die Zwergin, auf allen vieren. Sie knurrt tief aus der Kehle und tut so, als wollte sie ihn zwicken. Er kann sich gerade noch zügeln, fast hätte er ihr einen Tritt versetzt.
Er geht seinen Aufgaben nach. Wie muss es für Lady Rochford sein, überlegt er, einen Mann zu haben, der sie so demütigt und lieber mit seinen Huren zusammen ist, ohne daraus ein Geheimnis zu machen? Er ist nicht fähig, diese Frage zu beantworten, gesteht er sich ein, er hat keinerlei Zugang zu ihren Gefühlen. Er weiß nur, dass er ihre Hand nicht gern auf seinem Arm spürt. Ihr scheint das Elend aus den Poren zu rinnen. Sie lacht, doch ihre Augen lachen nie mit. Sie huschen von Gesicht zu Gesicht und saugen alles in sich auf.
An dem Tag, als Purkoy aus Calais an den Hof kam, hatte er Francis Bryan am Ärmel gefasst: »Wo kann ich so einen bekommen?« Ah, für Ihre Geliebte?, hatte der einäugige Teufel wissen wollen, nach Klatsch suchend. Nein, hatte er lächelnd gesagt, für mich selbst.
Bald war Calais in Aufruhr. Briefe flogen über das schmale Meer. Der Master Sekretär wünscht sich einen hübschen Hund. Finde einen für ihn, finde ihn schnell, bevor ein anderer sich den Dank verdient. Lady Lisle, die Frau des Gouverneurs, fragte sich, ob sie ihren eigenen Hund abgeben sollte. Von allen möglichen Händen wurde ein halbes Dutzend Spaniels herbeigetragen. Alle waren mehrfarbig, hatten freundliche Gesichter, einen buschigen Schwanz und winzige zarte Pfötchen. Keiner war wie Purkoy mit seinen gespitzten Ohren und seinem fragenden Blick. Pourquoi?
Gute Frage.
Der Advent: erst das Fasten, dann das Schlemmen. In den Vorratsräumen warten Rosinen, Mandeln, Muskatnüsse und Macis, Nelken, Lakritze, Feigen und Ingwer. Die Gesandten des englischen Königs sind in Deutschland und reden mit dem Schmalkaldischen Bund, dem Bündnis protestantischer Fürsten. Der Kaiser ist in Neapel, Barbarossa in Konstantinopel. Der Diener Anthony steht in der großen Diele in Stepney auf einer Leiter und trägt ein mit Mond und Sternen besticktes Gewand. »Alles in Ordnung, Tom?«, ruft er.
Der Weihnachtsstern wiegt sich über seinem Kopf. Er, Cromwell, steht da und sieht zu seinen versilberten Kanten auf: Scharf wie Messer scheinen sie.
Anthony ist erst vor einem Monat in den Haushalt gekommen, doch es ist schwer, ihn sich noch als Bettler am Tor vorzustellen. Bei der Rückkehr von seinem, Cromwells, Besuch bei Katherine drängte sich die gewohnte Menge Londoner draußen vor Austin Friars. Auf dem Land mögen sie ihn nicht kennen, hier schon. Sie kommen, um seine Dienerschaft anzustarren, seine Pferde, ihr Geschirr und seine flatternden Farben. Heute jedoch kommt er mit einer unkenntlichen Wache, einer Gruppe müder Männer von einem unbekannten Ort. »Wo waren Sie, Lord Cromwell?«, brüllt ein Mann, als schulde er den Londonern eine Erklärung. Manchmal sieht er sich selbst vor seinem inneren Auge, in gestohlenen Kleidern, den Soldaten einer geschlagenen Armee: einen hungernden Jungen,
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