Falken: Roman (German Edition)
die atteinte gefasst, und im letzten Moment stellt ihm sein übergroßes Verlangen ein Bein – er spannt die Muskeln an und drückt den lanzentragenden Arm an den Körper, die Spitze schnellt hoch und verfehlt ihr Ziel. Wenn du einen Fehler vermeiden willst, vermeide diesen. Trage deine Lanze ein wenig locker, sodass sich die Spitze beim Anspannen des Körpers und Anziehen des Arms genau auf das Ziel richtet. Aber denke vor allem daran: Überwinde deinen Instinkt. Dein Wunsch nach Ruhm muss deinen Wunsch zu überleben besiegen. Warum sonst überhaupt kämpfen? Warum kein Schmied, kein Brauer, kein Wollhändler werden? Warum begibst du dich in den Wettbewerb, wenn nicht, um zu gewinnen und andernfalls zu sterben?
Am nächsten Tag sah er den Ritter wieder. Er, Tommaso, kam vom Trinken mit seinem Freund Karl-Heinz, und sie sahen den alten Mann auf der terra firma liegen, die Füße im Wasser. Im Dämmerlicht Venedigs kann es leicht andersherum sein. Sie zogen ihn ans Ufer und drehten ihn um. Ich kenne diesen Mann, sagte er. Sein Freund fragte: Wem gehört er? Er gehört niemandem, aber er flucht auf Deutsch, also lass uns ihn zum Deutschen Haus tragen, denn ich selbst wohne nicht im Toskanischen Haus, sondern bei einem Mann, der eine Gießerei leitet. Karl-Heinz fragte: Handelst du mit Waffen?, und er sagte, Nein, mit Altartüchern. Karl-Heinz meinte: Es ist genauso wahrscheinlich, Rubine zu scheißen, wie die Geheimnisse eines Engländers zu erfahren.
Während sie sprachen, hievten sie den alten Mann in die Höhe, und Karl-Heinz sagte: Sie haben ihm den Geldbeutel abgeschnitten, sieh. Ein Wunder, dass sie ihn nicht umgebracht haben. Sie brachten ihn mit einem Boot zum Fondaco, den die deutschen Kaufleute bewohnten und der gerade nach einem Feuer renoviert wurde. Lege ihn unten ins Lager zwischen die Kisten, sagte er. Suche etwas, womit du ihn zudecken kannst, und gib ihm zu essen und zu trinken, wenn er aufwacht. Er wird es überleben. Er ist alt, aber zäh. Hier ist Geld.
Ein wunderlicher Engländer, sagte Karl-Heinz. Er sagte: Ich selbst habe von Fremden profitiert, die verkleidete Engel waren.
Am Wassereingang steht ein Wächter, nicht von den Kaufleuten beauftragt, sondern vom Staat, da die Venezianer wissen wollen, was in den Häusern der Nationen vorgeht. Also wechseln noch mehr Münzen die Hand in die des Wächters. Sie ziehen den alten Mann aus dem Boot, er ist jetzt halb wach, schlägt mit den Armen um sich und sagt etwas, vielleicht auf Portugiesisch. Sie ziehen ihn unter den Portikus, und Karl-Heinz sagt: »Thomas, hast du unsere Gemälde gesehen? Dort«, sagt er, »du, Wächter, halte doch einmal deine Fackel in die Höhe, oder müssen wir auch dafür zahlen?«
Licht flackert zu den Wänden hoch. Auf den Steinen erblüht dahinfließende Seide, rote Seide oder ein Strom Blut. Er sieht eine weiße Rundung, einen schmalen Mond, eine abgeschnittene Sichel. Das Licht wäscht über die Wand, und da ist ein Frauengesicht, die Kontur der Wange goldgerahmt. Sie ist eine Göttin. »Höher die Fackel«, sagt er. Auf ihrem zerzausten, wirren Haar sitzt eine vergoldete Krone, hinter ihr sind Planeten und Sterne zu sehen. »Wen habt ihr das malen lassen?«, fragt er.
Karl-Heinz sagt: »Giorgione arbeitet für uns, sein Freund Tiziano bemalt die Fassade von Rialto. Der Senat bezahlt die beiden, aber bei Gott, er holt sich das Geld mit Gebühren von uns zurück. Gefällt sie dir?«
Das Licht streicht über ihr weißes Fleisch, schwenkt weg und streut Dunkel auf sie. Der Wächter senkt die Fackel und sagt: Denken Sie, ich stehe hier die ganze Nacht zu Ihrem Vergnügen in der beißenden Kälte? Damit übertreibt er, um mehr Geld zu bekommen, aber es stimmt, dass Dunst über Brücken und Wege kriecht und ein kalter Wind vom Meer hereinweht.
Er trennt sich von Karl-Heinz, der Mond ist ein Stein im Wasser des Kanals, und er sieht eine teure Hure, die noch spät unterwegs ist. Ihre Diener halten sie bei den Ellbogen, während sie auf ihren hohen Chopinen über das Pflaster stakst. Ihr Lachen läutet durch die Luft, und das fransige Ende ihres gelben Schals schlängelt sich von ihrem weißen Hals in den Dunst. Er betrachtet sie. Sie bemerkt ihn nicht, und dann ist sie weg. Irgendwo öffnet sich eine Tür für sie, und irgendwo schließt sich eine Tür. Wie die Frau auf der Wand ist sie dahingeschmolzen und im Dunkel verschwunden. Der Platz ist wieder leer und er selbst nur ein schwarzer Umriss vor den Ziegeln, ein aus
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