Falken: Roman (German Edition)
uralten Abstammungslinien herleiten. Sie leiden, mehr als alle von uns, unter den Ambitionen der Boleyns.
Er rollt sein Blatt zusammen. Norfolk, Carew, Fitz, Francis Bryan. Die Courtenays, die Montagues und ihresgleichen. Und Suffolk, der Anne hasst. Es ist nur eine Namensliste. Zu viel lässt sich daraus nicht schließen. Diese Leute sind nicht notwendigerweise miteinander befreundet. Sie sind nur, mehr oder weniger, Freunde der alten Ordnung und Feinde der Boleyns.
Er schließt die Augen. Sitzt da und atmet ruhig. Ein Bild steigt in seinen Gedanken auf. Eine vornehme Halle. In die er einen Tisch bestellt.
Die Böcke werden von Lakaien gebracht.
Die Platte wird befestigt.
Livrierte Bedienstete falten die Decke auseinander, ziehen sie zurecht und streichen sie glatt. Wie die Tischdecke des Königs ist sie geheiligt, die Bediensteten murmeln eine lateinische Formel, treten zurück, um alles zu prüfen, und füllen die Ecken.
So weit der Tisch. Jetzt brauchen wir etwas, worauf die Gäste sitzen können.
Die Diener schleifen einen schweren Stuhl über den Boden, in dessen Rückenlehne das Wappen der Howards geschnitzt ist. Der ist für den Herzog von Norfolk, der seinen knochigen Hintern darauf hinabsenkt. »Was haben Sie anzubieten«, fragt er wehleidig, »um mir damit Appetit zu machen, Crumb?«
Bringt noch einen Stuhl, befiehlt er den Dienern. Stellt ihn zur Rechten von Mylord Norfolk auf.
Der ist für Henry Courtenay, den Marquis von Exeter. Der Marquis sagt: »Cromwell, meine Frau hat darauf bestanden, mitzukommen!«
»Es erfreut mein Herz, Sie zu sehen, Lady Gertrude«, sagt er mit einer Verbeugung. »Setzen Sie sich.« Bis zu diesem Essen hat er immer versucht, dieser unbesonnenen, störenden Frau aus dem Weg zu gehen. Jetzt macht er ein höfliches Gesicht: »Jede Freundin von Lady Mary ist herzlich zum Essen eingeladen.«
»Prinzessin Mary«, bellt Gertrude Courtenay.
»Wie Sie mögen, Mylady«, seufzt er.
»Ah, da kommt Henry Pole!«, ruft Norfolk. »Wird er mir mein Essen stehlen?«
»Es gibt genug für alle«, sagt er. »Bringt noch einen Stuhl für Lord Montague. Einen passenden Stuhl für einen Mann fürstlichen Blutes.«
»Wir nennen das einen Thron«, sagt Montague. »Übrigens ist meine Mutter mit hier.«
Lady Margaret Pole, die Gräfin von Salisbury und rechtmäßige Königin Englands, wie einige sagen. König Henry hat einen weisen Kurs mit ihr und ihrer Familie eingeschlagen. Er ehrt sie, hegt sie, pflegt ein enges Verhältnis mit ihnen. Viel geholfen hat es nicht: Noch immer halten sie die Tudors für Thronräuber, obwohl die Gräfin Prinzessin Mary, deren Gouvernante sie zu Marys Kinderzeit war, sehr mag: mehr in Ehrerbietung ihrer königlichen Mutter Katherine als Henry gegenüber, den sie als Brut walisischer Viehzüchter betrachtet.
In seiner Vorstellung ächzt die Gräfin zu ihrem Platz. Staunend sieht sie sich um. »Da haben Sie aber eine prächtige Halle, Cromwell«, sagt sie pikiert.
»Der Lohn der Verdorbenheit«, sagt ihr Sohn Montague.
Er verbeugt sich wieder. Zu diesem Zeitpunkt wird er jede Beleidigung schlucken.
»Nun«, sagt Norfolk, »wo ist mein erstes Gericht?«
»Geduld, Mylord«, sagt er.
Er selbst nimmt ebenfalls Platz, auf einem bescheidenen dreibeinigen Hocker ganz am Ende des Tisches. Er sieht zu den Höhergestellten hin. »Die Platten kommen sofort, aber sollten wir nicht erst ein Gebet sprechen?«
Er sieht zu den Balken hinauf. In sie hineingeschnitzt und bemalt die Gesichter der Toten: More, Fisher, der Kardinal, Königin Katherine. Darunter die lebende Blüte Englands. Hoffen wir, dass das Dach nicht einstürzt.
Am Tag nachdem er, Thomas Cromwell, seine Vorstellungskraft auf diese Weise trainiert hat, verspürt er das Bedürfnis, seine Position in der realen Welt klarzustellen. Und die Gästeliste zu erweitern. Sein Tagtraum endete noch vor dem Festessen, also weiß er nicht, was für Speisen er anbieten wird. Er muss sich etwas Gutes einfallen lassen, oder die Magnaten werden hinausstürmen, die Tischdecke mit sich reißend und seine Bediensteten malträtierend.
So: Er spricht mit den Seymours, privat, aber deutlich. »Solange der König an der Königin festhält, werde auch ich es tun. Wenn er sie zurückweist, muss ich neu überlegen.«
»Sie haben also keine eigenen Interessen in der Sache?«, fragt Edward Seymour skeptisch.
»Ich vertrete die Interessen des Königs. Das ist meine Aufgabe.«
Edward weiß, er wird sich nicht weitergehend
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