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Falkengrund Nr. 31

Falkengrund Nr. 31

Titel: Falkengrund Nr. 31 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Clauß
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tun?“

11
    Der Plan war durch und durch verrückt. Nicht nur lebensgefährlich, sondern komplett durchgeknallt. Sie würden dabei draufgehen. Hatte Werner anfangs noch angenommen, er würde vielleicht vor dem Schloss Schmiere stehen, während Sir Darren mit seiner Geisterfreundin reinging und den Teufel mit dem Beelzebub austrieb, musste er sich eines Besseren belehren lassen.
    Er würde das Gebäude betreten. An der Seite der beiden. Es war seine Idee gewesen. Er hatte Sir Darren geholt. Mitgehangen, mitgefangen …
    Es war halb acht Uhr morgens, ein bedeckter, verwaschener Tag mit Nieselregen, drei Tage vor Weihnachten. Die Nacht hatte sich noch nicht zurückgezogen, es gab nur einen Hauch Helligkeit. Sir Darren hatte ihm erklärt, dieser Zeitpunkt sei günstig, da Geister schon wenige Stunden nach Sonnenaufgang an Macht gewönnen.
    Die beiden Männer trugen keinerlei künstliches Licht bei sich. Es würde den Spuk zu sehr reizen, meinte der Brite. Er hatte wieder seine graue Umhängetasche dabei und zeigte Werner bereitwillig ihren Inhalt: Ein dickes Buch, ein Säckchen voll seltsamer Amulette aus Silber, Eisen, Holz, Stein und Elfenbein, dazu ein Stück einer merkwürdig gelblichen, fettigen Kreide.
    „Sollten wir uns die Amulette nicht anheften?“
    „Nein“, lautete die Antwort. „Jetzt dürfen Sie die Tür öffnen.“
    Warum jetzt? Warum erlaubte er ihm heute, was er ihm Wochen vorher strengstens verboten hatte? In Werners Ohren rauschte das Blut. Nein, da rauschte etwas anderes. Er wusste, was es war, wer es war, und das Geräusch hätte ihn vielleicht beruhigen sollen, aber Pustekuchen – es war nicht beruhigend, etwas zu tun, was andere Menschen das Leben gekostet hatte. Dass man von einer Geistererscheinung geführt wurde, machte es eher noch schlimmer.
    Sir Darren ließ ihm den Vortritt, und Werner machte drei, vier eilige Schritte in die große Eingangshalle von Schloss Falkengrund, als wäre Entschlossenheit die einzige Waffe, die er hatte. Kaum Licht drang durch die größtenteils zersplitterten Fenster, und doch konnte man etwas sehen. Die Konturen waren von eigenartiger Konsistenz. Wände und Treppen schienen sanft von innen heraus zu fluoreszieren wie Tiefseefische. Es sah aus, als wären sie nicht echt, sondern projiziert, doch dieser Eindruck verlor sich in den folgenden Sekunden. Möglicherweise hatte es mit der Anwesenheit einer übernatürlichen Präsenz zu tun. Katharina zeigte sich nicht, aber er wollte unbedingt glauben, dass sie da war.
    Werner kam die ganze Aktion zu blauäugig vor. Er hatte sich sehr fantasievolle Dinge ausgemalt. Dass sie sich in einem magischen Zirkel bewegen würden, zum Beispiel, in einem Kreidekreis, in dem sie sicher waren und den sie Zentimeter für Zentimeter durch das Schloss bewegten. Dass sie Lichtquellen mit sich herumtrugen, die die Räumlichkeiten bis in den letzten Winkel mit gleißendem Kunstlicht fluten würden. Stattdessen drangen sie in nahezu vollkommener Finsternis in ein heruntergekommenes, verlassenes Gebäude ein – auch ohne das Wissen um den mörderischen Spuk wäre das kein Vergnügen gewesen.
    Die beiden großen Treppen waren kaum auszumachen, und oben, wo sie hinführten, waberte ein schlieriges dunkles Grau wie von einem verwaschenen, unterbelichteten Foto.
    „Ich glaube, ich kann das nicht“, sagte Werner. Seine Stimme war ein Nichts in dieser Atmosphäre. Sie schien von der Luft aufgesogen zu werden. Er hatte das Gefühl, wenn er in voller Panik schreien würde, würde diese Atmosphäre seine Stimme nicht einmal durch die geöffnete Tür und die zerbrochenen Fenster tragen. Dieses Gebäude war anders, als er sich Spukhäuser vorgestellt hatte. Es war nicht: ein staubiger alter Ort voll unerklärlicher Geräusche, huschender Bewegungen, weißer Schemen. Es war: von einer so dumpfen, stickigen, grabesgleichen Beschaffenheit, dass man fürchtete, mit seiner ganzen Existenz, seinem ganzen Leben darin zu ersticken und unterzugehen.
    Schloss Falkengrund war ein dunkles Loch, ein unendlich großes feuchtes Tuch. Es legte sich auf Mund, Nase, Augen, Ohren und sogar auf die Gedanken, bis die Lungen nicht mehr atmen, die Sinne nicht mehr wahrnehmen, das Gehirn nicht mehr denken konnte.
    Falkengrund war Tiefsee an Land. Es würde sie zerdrücken.
    „Reißen Sie sich zusammen!“, schimpfte Sir Darren. „Sie schwanken ja. Sie sollen die Atmosphäre dieses Ortes nicht aufsaugen wie ein Künstler auf der Suche nach Inspiration. Halten Sie

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