Falkengrund Nr. 32
fast.
„Ich b-brauche das Foto.“ Ein Versuch, eindringlich zu klingen. Es klang höchstens erbärmlich.
„Du kannst gerne hochgehen, wo es liegt. Niemand hält dich auf. Aber dann kannst du nicht mehr hierher zurück.“ Dieser Fiesling von einem Arzt lachte nicht einmal, dabei war es offensichtlich, wie sehr er all das genoss. „Es sei denn, du spendest noch einmal zwei Liter Blut.“
Zwei Liter! War das die Menge, die man ihm genommen hatte? Fast die Hälfte von dem, was er in sich trug? Wie er diesen Menschen hasste, der sich so etwas anmaßte! Kein Wunder, dass Dunstey sich fühlte, als wäre er schon gestorben. Er wollte etwas zu Hasselburgh sagen, ihm klarmachen, wohin er ihm seinen hässlichen Kopf stecken würde, nachdem er ihn ihm abgerissen hatte.
„Auf dem Foto i-ist … eine Frau in ro-roter Kleidung“, stammelte er stattdessen. Er beeilte sich. Vielleicht würde er bald erfrieren. Wenn er hier zusammenklappte, würde der Doktor ihn bestimmt nicht auflesen und in die Wärme bringen. „Sie war auf meiner Party … hat ein furchtbares … Chaos angerichtet. Ich kenne sie nicht … Sie hat mir etwas zugeflüstert … Sie sagte … sie sagte mir … euren Namen.“
„Deine Frage!“, drängte Hasselburgh.
„Ich will wissen, wer diese Frau ist … nein, nein! Was sie will. Was in aller Höllen Namen sie von mir will. Ich möchte …“
„Halt dein Maul“, sagte der Arzt. „Du hast deine Frage gestellt. Jetzt darfst du auf die Antwort warten. Und beten, dass du sie noch erlebst.“
Irgendwann , dachte Dunstey, irgendwann wird Gerechtigkeit vom Himmel fallen und dich erschlagen. Er hatte tatsächlich eine Vision von einem Klumpen Gerechtigkeit, der wie ein Meteor vom Himmel stürzte und Hasselburgh unter sich begrub.
Die Antwort dauerte. Das war immer so gewesen, schon die beiden vorigen Male. Doch damals war es zivilisierter zugegangen. Ein Liter Blut, und die Kleidung hatte man ihm angelassen.
Er schlotterte. „Binde mich los!“, stöhnte er. Erstaunlicherweise gehorchte der Mediziner und löste den Knoten. Zweifellos tat er es, weil er wusste, dass der Nackte nicht weit kommen würde. Dunstey versuchte sich zu erheben, um wenigstens den kalten Sitz des Stuhles loszuwerden, aber er schaffte es erst beim fünften Versuch, und auch da fiel er nach einer Minute wieder zurück.
„Ich kann nicht mehr länger warten“, jammerte er.
Die Antwort darauf kannte er schon. Und Hasselburg enttäuschte ihn nicht. „Du kannst nach jederzeit oben gehen, wenn du willst.“
Dunstey weinte. Kalt rannen die Tränen aus ihm heraus, als wäre sein Inneres mit Eiswasser gefüllt. Er schluchzte und hustete. Irgendwann, als er nicht mehr weinen konnte, wischte er sich die Augen und blickte vor sich. Auf dem Tisch lag etwas Helles. Ein Brief. Seine Antwort.
„Wie … lange liegt das schon da?“ Hass strömte wie Lava durch seine Adern, wärmte ihn förmlich auf.
„Ich habe nicht auf die Uhr gesehen.“
Dunstey griff nach dem Brief, drückte ihn gegen seine zitternde Brust, damit er ihn nicht mehr verlor, selbst wenn er zusammenbrechen sollte. Dann wuchtete er sich mit aller Kraft hoch und taumelte zum Fahrstuhl, musste warten, bis der Arzt gemächlich folgte und den richtigen Knopf drückte. Noch im Innern des Lifts riss er den Brief auf und entzifferte die geschwungenen Buchstaben, die nur entfernt mit der lateinischen Schrift verwandt waren.
Vier Zeilen, mehr nicht.
Dunstey las sie flüssig, und plötzlich war ihm, als sei er vom Vorhof der Hölle in den Vorhof des Himmels getreten. Tränen der Rührung traten in seine Augen. Seine Nacktheit war die Nacktheit der Menschen im Garten Eden, das Schwindelgefühl war ein Rausch von himmlischem Nektar.
Die Zeilen hatten keine Bedeutung, sie beantworteten seine Frage nicht, aber eine tiefe Schönheit wohnte in ihnen, auf die er in diesem Leben nicht mehr zu hoffen gewagt hatte.
Er ließ zu, dass Hasselburgh ihm den Brief aus den Fingern nahm und sich selbst daran labte. Als der Fahrstuhl an seinem Ziel ankam, waren sie Freunde, vereint von der Harmonie des kurzen Gedichts.
Der Arzt half Dunstey dabei, in seine Kleidung zu schlüpfen, ließ ihn etwas schlafen und verabreichte ihm eine kräftigende Infusion, ehe er ihn gehen ließ.
5
In der zweiten Woche fand Mama in MacNorras’ Haus ein Buch über britische Sagengestalten.
Seine Bibliothek war ein angenehmer Ort, mit schweren Holzregalen und doch keineswegs dunkel. Ein Großteil der Bücher
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